"EAGLE-Starthilfe" nennt sich die Serie in der Edition am Gutenbergplatz Leipzig, in der insbesondere Bücher mit Start- und Übungshilfen für Studierende erscheinen. Also relativ trockene Materie, wenn man nicht selbst in so einem Studium gelandet ist und die trockenen Bausteine für seine Semesterarbeiten und Fähigkeitsnachweise braucht. Etwa wenn man an der Staatlichen Berufsakademie Eisenach so etwas wie Betriebswirtschaft studiert.
Dazu gehört dann auch ein Teil Wirtschaftsmathematik, Statistik und Operations Research, die von Dr. Günter Deweß und Dr. Helga Hartwig unterrichtet werden. Operations Research ist wieder so ein Begriff, der sich englisch ausputzt, als hätten die US-Amerikaner erfunden, worum es geht. Haben sie aber nicht. Es klingt wohl nur irgendwie schnittiger. Damit beeindruckt man Leute. Tatsächlich geht es um etwas für die Betriebswirtschaft ganz Uraltes: die Optimierung von Verfahrensabläufen. Damit haben sich selbst die Wirtschaftsfachleute in der ewig rohstoffknappen DDR beschäftigt. Planwirtschaft war nicht nur die Weisung aus der Chefetage, was fürs Volk in welcher Menge zu produzieren sei. Es war auch die Berechnung dessen, was mit verfügbaren Rohstoffen mit den verfügbaren Kapazitäten wie am günstigsten zu produzieren sei.
Bestimmt seinerzeit auch in der großen Hoffnung, wenn man nur die richtigen Formeln fände, könnte man vielleicht am Ende doch den Klassenfeind in Effizienz und Preis ausstechen. Hat ja bekanntlich nicht geklappt. Unter anderem auch, weil der Klassenfeind mit seinen Ressourcen genauso aufs Optimum und die maximal mögliche Rendite zielte. Und mehr Geld in der Kasse hatte er sowieso. Die besseren und schnelleren Computer erst recht. Denn das, was hier im Buch als Rechenexempel auf Basis von Matrizen vorexerziert wird, ist ja nichts anderes als Mathematik. Bevor irgendjemand Geld in die Hand nimmt, Fahrzeuge, Maschinen und Rohstoffe bestellt, muss gerechnet werden. Mit welchem Materialeinsatz, welcher Logistik und welchen Zielparametern erreiche ich das Optimum in der gewünschten Produktion?
Dafür gibt es keine absoluten Werte. Klassische Unternehmer entscheiden so etwas bis heute aus dem Bauch und können sich dabei in der Regel auf Jahre wertvoller Berufserfahrung verlassen. Aber in den seit nunmehr 40 Jahren auf Effizienz getrimmten Produktionsabläufen sind immer seltener klassische Unternehmer unterwegs, die noch den kompletten Überblick über die Produktion haben, sondern immer öfter Manager und Verfahrenstechniker, die gelernt haben, wie man Produktionsabläufe organisiert und optimiert. Diese Leute können auch über Nacht die Branche wechseln und in einem völlig fremden Metier genauso agieren.
Was viele auch tun. Was ein Teil der modernen Wirtschaftsproblematik ist. Denn wenn es nur noch um die Optimierung der Verfahrensabläufe geht, werden die betroffenen Unternehmen immer mehr zu einer virtuellen Klammer. Waren werden nach Preis und Verfügbarkeit bestellt, Transportwege nach dem Optimum des Warenflusses organisiert, Produktion nach dem Optimum der erzielbaren Gewinne gefahren. So werden mögliche Überproduktionen, Leerfahrten, Kostenverluste in der Produktion minimiert. Optimierung ist – betriebswirtschaftlich betrachtet – stets die Minimierung der Produktionskosten verknüpft mit der Maximierung des Gewinnes.
Dass es da ein paar kleine Haken gibt, ist den beiden Autoren durchaus bewusst. Denn der schöne ideale Tummelplatz der Betriebswirtschaft, der scheinbar nur innerhalb seiner eigenen Produktionslinien optimiert, ist kontaminiert. Eine dieser Kontaminationen ist die geliebte Konkurrenz. Auch sie taucht in einigen Rechenbeispielen auf – zum Beispiel bei der Anwendung der Iterationsmethode, wenn Max und Moritz mit Münzen (gegeneinander) spielen. Denn wenn für beide dieselben Gewinnregeln gelten, müssen beide nicht nur den “Markt” beobachten, sondern auch einander – und sie lernen voneinander und optimieren auch ihre jeweiligen Verhaltensweisen, jeder darauf bedacht, den Anderen übers Ohr zu hauen, zu unterbieten, besser zu sein.
Am Ende bekommt man trotzdem kein simples Ergebnis. Man merkt es schon beim Durchblättern der einzelnen Aufgaben. Die Berechenbarkeit in der Optimierung eines Betriebsablaufs ist begrenzt. Man kann nur für einen idealen Zustand eine Annäherung an ein mögliches Optimum errechnen. Man ist dann wahrscheinlich gut beraten, das Ergebnis dann auch schleunigst in die Tat umzusetzen. Denn Max und Moritz spielen ja derweil ihr Münzspiel weiter. Wenn der eine optimiert, zieht der andere gezwungenermaßen nach, sonst ist er bald zu teuer und weg vom Fenster.
Und selbst wenn dann beide eifrig optimiert haben und die Bewohner der Stadt zwischen zwei gut funktionierenden Angeboten wählen können, heißt das nicht, dass nun eine schöne Ruhe einkehrt. Das steht dann nicht im Buch, aber der reale Leser kann es ahnen: Was passiert, wenn sich einzelne Parameter ganz irrational ändern? – Da verabschiedet der Bundestag ein neues Gesetz, das 12-Stunden-Fahrten für Lkw-Fahrer verbietet? Schon stimmt die “optimierte” Logistik nicht mehr. In New York wird der Spritpreis in die Höhe gezockt – schon läuft die Tankrechnung aus dem Ruder. Oder wie wäre es mit einer Großbaustelle, die die optimierten Lieferrouten zerschneidet? Katastrophe! Oder eine schöne neue Umweltzone, und Max und Moritz dürfen nicht mehr durch die Stadt brettern?
Die Realität des Wirtschaftslebens ist wesentlich komplexer. Neue Produktgenerationen zerstören den Absatzmarkt für die alten, Kundenbedürfnisse verändern sich, ein verregneter Sommer kann alle Pläne der Textilwirtschaft über den Haufen werfen. Bei Max fällt eine wichtige Fließstrecke aus und seine Produkte sind auf einmal nicht mehr lieferbar? Hat er ein Reservelager? Ist seine Fließstrecke überhaupt noch reparabel oder längst von Generation 3.0 oder 5.1 überholt?
Ein Semester Operations Research
Günter Deweß; Helga Hartwig, Edition am Gutenbergplatz 2013, 14,50 Euro
Einige Probleme, die zum Wirtschaftsalltag gehören, tauchen auch in diesem Büchlein auf – “kapazitätsbeschränkte Lieferwege” zum Beispiel oder “Ressourcenbeschränkung”, wenn Prozesse einfach nicht abzukürzen oder gar zu unterbrechen sind.
Was fehlt völlig? – Natürlich der Faktor Mensch, dieser Unberechenbare, der auch mal krank wird oder unaufmerksam ist. Und wie ist das, wenn Max sich nicht an die Regeln hält, sondern mit gezinkten Karten spielt? Oder wenn gar Fritz und Helge mitspielen wollen – aber nach ihren eigenen Regeln? Wenn Max lieber den Schiedsrichter besticht, als Moritz auch nur einen Stich zu gönnen? – Oh, diese ganzen biblischen Todsünden, die jeder Optimierung zuwider laufen. Einfach mal wieder aufgelistet für alle, die gern so tun, als würden sie in unserer Welt nicht die Hauptrolle spielen: Hochmut, Geiz (Habgier), Wollust, Zorn (Wut, Rachsucht), Völlerei (Gefräßigkeit, Maßlosigkeit, Selbstsucht), Neid (Eifersucht, Missgunst) und Faulheit (Feigheit, Ignoranz).
Die schlichte Wahrheit zum gewöhnlichen Wirtschaftsleben ist: Viele Mitspieler sind geradezu bestrebt, das Optimum jederzeit zu stören und die besseren Karten für sich zu sichern. Da wird ein bisschen korrumpiert und bestochen, ein bisschen monopolisiert und in Kartellen gemauschelt, da wird gedumpt und in der Lobby getuschelt, gepanscht und mit Ersatzstoffen experimentiert, umetikettiert und druntergemischt, was nicht reingehört.
Wahrscheinlich gibt es auch ein paar durchwachsene Betriebswirtschaftler, die sich so eine reine, ehrliche Welt wünschen, in der man alles Nötige bis zum maximal Möglichen optimieren kann. In der Autoindustrie ist man ja gerade dabei, den Fahrer aus dem Auto herauszuoptimieren. Aber eine Wahrheit über den Menschen ist wohl auch: Er würde ein optimiertes Leben gar nicht aushalten und rebellieren oder flüchten. Betriebswirtschaftler können gar keine glücklichen Leute sein. Immer bleibt da auch in der schönsten Näherung ein kleiner Rest, der so unberechenbar ist wie das Wetter.
Keine Kommentare bisher