2012 war das, da stellten die Akteure um den Leipziger "Tag der Stadtgeschichte" diesen Tag unter das Thema "Das religiöse Leipzig". Selbst als sie 2013 das Vorwort schrieben, ließen Enno Bünz und Armin Kohnle die Skepsis durchblicken: Kann man über so ein Thema überhaupt noch Neues sagen? Ist das nicht alles erforscht? - Denkste, dachten sich da 24 Autorinnen und Autoren.

Nicht alle haben ihre Vorträge 2012 zum “Tag der Stadtgeschichte” gehalten, schon aus Zeitgründen. Deswegen ist in diesem Sammelband auch Etliches zu lesen, was damals nicht thematisiert wurde. Und obwohl auch dieser Band über 500 Seiten dick wurde, zeigt das Ergebnis: Es ist wieder nicht alles drin. Allein Leipzigs Religionsgeschichte würde einige 1.000-Seiter füllen. Das beginnt schon mit der Vorgeschichte, die ja bekanntlich eine heidnische war. Zwischen Saale und Elbe existierte eine “sorbische Gentilreligion”, wie sie Matthias Hardt bezeichnet und wenigstens zu skizzieren versucht, denn wirklich viel weiß man über die Religion der hier ansässigen Sorben nicht.

Weniges hat Eingang in die Chroniken gefunden, auch wenn die alte Religion augenscheinlich noch bis ins 13. und 14. Jahrhundert hinein parallel zum Christentum der neuen Eroberer und Siedler existierte. Bodenfunde fehlen fast komplett, entweder weil alles, was zur sorbischen Religion gehörte, vergänglich war. Oder weil die neuen Herren besonders gründlich waren in der Tilgung der alten Kulte und Kultorte, von denen sich auch der ein oder andere auf Leipziger Flur befunden haben muss.

Wurden die neuen christlichen Gotteshäuser drüber gebaut? Gab es noch mehr Heilige Haine wie bei Schkeitbar, die mit Axt und Feuer beseitigt wurden? Auch wenn Thietmar von Merseburg sehr genau und fleißig war beim Schreiben seiner Chronik – er hatte ja einen ganz anderen Fokus. Ihm ging es um den Bestand des noch jungen Bistums. Was nicht direkt zur Geschichte der Bistümer Meißen und Merseburg gehörte, erwähnte er gar nicht erst. Zeitgenossen sind in der Regel blind für das, was an der Zeitgeschichte wirklich wichtig ist.Sehr zum Ärger der Späteren, die aus dem Parteiischen und Fragmentarischen die komplexe Wirklichkeit zu rekonstruieren versuchen. Das hört mit der Christianisierung nicht auf, im Gegenteil. Auch für das kirchliche Leben des frühen Leipzig bleibt Vieles fragmentarisch, ist die moderne Rekonstruktion ein Suchen in alten Schriftwechseln und Rechnungsbüchern. Die ihre Begrenzungen haben. Manche Frage endet im Nichts. Oder wirft neue Fragen auf. Gerade solche, die zurückliegende Historikerepochen gar nicht gestellt haben, weil ihnen die Oberfläche genügte.

Aber die Oberfläche genügt meist nicht. Sie dient nur zur Fortpflanzung der alten Legenden. Eine solche hat sich zum Beispiel Christoph Volkmar vorgeknöpft. Sie betrifft die frühe Reformationszeit in Leipzig, die Jahre zwischen Luthers Thesenanschlag 1517 und der tatsächlichen Einführung der Reformation in Leipzig 1539. Eine Zeit, die die meisten Historiker immer nur summarisch abgehandelt haben – sie haben die wahrscheinlichen Luther-Anhänger und die womöglichen Reformationsgegner gezählt und daraus ihre Urteile gezogen – mal gegen, mal für die Reformfreudigkeit Leipzigs.

Volkmar sagt dazu zwar nicht “Mumpitz”, geht es aber anders an und untersucht die Akteure in ihrer Zeit und in ihren Handlungen. Und malt ein Bild, das den Leser doch verblüffend an etwas erinnert, was gerade in der jüngsten Leipziger Geschichte geschehen ist – den so widersprüchlichen Übergang zur Friedlichen Revolution von 1989, der ja auch in einem “Thesenanschlag” seinen Ursprung hatte. Dieser moderne “Thesenanschlag” war der Prager Frühling, der in Leipzig begleitet wurde von der Zerstörung der Paulinerkirche. Und wer nachrechnet, der kommt auf 21 Jahre, die es dauerte vom Prager Frühling bis zum 9. Oktober 1989.

In Luthers Zeit dauerte es 22 Jahre vom Thesenanschlag bis zu diesem Pfingsten 1539, als Luther sich auf die Kanzel der Thomaskirche schleppte und die Leipziger die Fenster einschlugen, um Luther predigen zu hören. Und das, obwohl Herzog Georg ab 1521 drastisch gegen die Befürworter der Reformation in Leipzig vorging. Bis dahin war Leipzig auch die Stadt gewesen, in der Luthers Schriften zuhauf gedruckt wurden. Volkmar gibt auch jenen Leipzigern einen Namen, die in dieser Zeit versuchten, die Reformation nach Leipzig zu bringen. Er zeichnet auch die Vertreter der Gegenseite und zeigt, wie staatliche Unterdrückung einer unerwünschten Bürgerbewegung schon im herzoglichen Sachsen funktionierte – samt Zensur und Spitzelei.

Mit einem sächsischen Legendenkanon beschäftigt sich Armin Kohnle in seinem Beitrag “Zwischen Luthertum und Calvinismus”, der zeigt, wie sehr all die Diskussionen und Rangeleien um “Krypto-Calvinismus” und “Calvinistensturm” eher keine Glaubenskämpfe waren, sondern Schatten politischer Positionierungen des sächsischen Herrscherhauses, das sich dabei nicht viel anders verhielt als die Hohenzollern im Nachbarland Brandenburg. Dass diese politischen Eiertänze um die gerade nützlichste Religion fürs Herrscherhaus auch ihre Schatten warfen und Ängste schürten, zeigte dann der Calvinistensturm von Leipzig und das harte Durchgreifen der Staatsmacht.Was dann etwas deutlich macht, was die Religionsgeschichte einer Stadt eben doch ausmacht: dass Religion über Jahrhunderte nie wirklich von Politik zu trennen war – und dass mit Religion auch immer wieder ordentlich Politik gemacht wurde. Oft genug auch die falsche, wofür zwei der schlimmsten Kriege stehen, die Sachsen heimsuchten – die Hussitenkriege im 15. Jahrhundert (die das Hussitenheer einmal auch vor die Tore Leipzigs führten) und der Dreißigjährige Krieg. Die wenigen Bemerkungen, die Kohnle dazu in seinem Beitrag “Zwischen Luthertum und Calvinismus” setzt, werfen durchaus Fragen auf zur Bündnispolitik der sächsischen Kurfürsten. Unter anderem auch die, ob der Dreißigjährige Krieg nicht einen völlig anderen Verlauf genommen hätte, wenn Johann Georg I. sich von Anfang an zum protestantischen Lager geschlagen hätte.

Eine spannende Frage, die auch einmal die Fähigkeit der jeweiligen Herrscher hinterfragt, rational die richtigen Entscheidungen treffen zu können.

Einige Beiträge widmen sich der Geschichte der jüdischen Bewohner Leipzigs, den wenigen Spuren aus dem Mittelalter und ihrer Integration in die bürgerliche Stadtgesellschaft im 19. Jahrhundert. Auch die Ansiedlung und Etablierung der Reformierten wird beleuchtet, der Neubeginn des Katholizismus im 18. Jahrhundert und die deutsch-katholische Bewegung in den 1840er Jahren, deren herausragender Vertreter Robert Blum war. Friedhöfe und Missionen werden beleuchtet. Und bei Beate Berger tauchen dann Leute auf, die man eigentlich unter Religion nicht vermutet: Freidenker und Monisten. Womit der aufkommende Atheismus des späten 19. Jahrhunderts ins Bild kommt – die bewusste Distanzierung hochkarätiger Leipziger Denker von der Religion und die öffentliche Diskussion eines freien, der Forschung und Welterkenntnis gewidmeten Lebens. Was die ganze Gesellschaft komplett umkrempelte, auch wenn Freidenker in der Folgezeit immer wieder staatliche Repression erlebten.

Manche Beiträge in diesem Band wirken logischerweise widersprüchlich. Denn dass gerade heutige Großstädte zum Brennpunkt zunehmender Konfessionslosigkeit werden, hat natürlich genau damit zu tun. Trotzdem ist die Wehmut deutlich zu spüren, mit der der Professor für Religions- und Kirchensoziologie Gert Pickel von der zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft erzählt. Die sich übrigens schon lange nicht mehr auf den Osten Deutschlands beschränkt. Aus Pickels Perspektive ist der zunehmende Unglaube in den Großstädten ein Verlust. Kirchen, wenn sie denn noch eine gesellschaftliche Rolle spielen wollen, müssen sich wandeln. Die alten Kirchengemeinden, die oft auch starke gesellschaftliche Restriktions- und Kontrollorgane waren und sogar gesellschaftliche Hierarchien verfestigten (man lese dazu Rüdiger Ottos “Der Platz in der Kirche im frühen 18. Jahrhundert”), könnten zu “Motoren des modernen zivilgesellschaftlichen Engagements” werden, schreibt Pickel.

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Das religiöse Leipzig
Enno Bünz, Armin Kohnle, Leipziger Universitätsverlag 2013, 62,00 Euro

Ansätze dafür gab es in der jüngeren Leipziger Geschichte ja einige – man denke nur an die Rolle der Kirche in der DDR in den 1980er Jahren, zu der Klaus Fitschen einen kleinen Abriss gibt – ebenfalls mit einigen sehr klaren Seitenhieben zur neueren Legendenbildung. Dass Kirchen wie die Nikolaikirche zu Heimstätten der Bürgerbewegung wurden, hat weniger mit ihrer eigenen Ambition, die Gesellschaft verändern zu wollen, zu tun, als mit der Tatsache, dass es in der DDR quasi überhaupt nur noch die Kirchen als gesellschaftliche Rückzugsräume gab, die einem direkten Zugriff des Staatsapparates mehr oder weniger entzogen waren. Über das Mehr oder Weniger entschied dann der Mut der jeweils zuständigen Pfarrer und Superintendenten.

Womit wieder ein neuer Punkt zum Nachdenken und Nachforschen gesetzt ist. Was das Wichtigste ist, was man zu dieser nun schon auf sechs Bände gediehenen Reihe “Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig” sagen darf: Sie ruht sich nicht auf den alten, immer wieder nur abgeschriebenen Legenden zur Leipziger Geschichte aus, sondern bietet immer wieder neuen Stoff und neue Sichtweisen – auch auf scheinbar längst Bekanntes. Lesefutter für alle, die mit den üblichen Leipziger Histörchen schon lange nicht mehr satt werden.

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