Die sächsische Geschichte beginnt im Jahr 631. Die Sorben fallen vom Frankenreich ab und schließen sich dem böhmischen Reich des Samo an. Was nicht lange vorhält. Aber es ist ein historisches Datum. So tauchten jene Leute erstmals in den Annalen auf, die da lebten, wo heute Freistaat Sachsen drauf steht. Und die bis weit ins 13. Jahrhundert den Charakter dieses Landes ausmachten, das erst 1423 den Namen Sachsen bekam.
Es gibt zwar schon etliche Geschichtsbücher zu Sachsen. Aber keines versuchte bisher so übersichtlich, die über 1.000 Jahre Geschichte nachzuzeichnen und auch Entwicklungslinien deutlich zu machen. Denn dass sich dieses Staatsgebilde über Jahrhunderte etablieren könnte, war keineswegs gesichert. Auch nicht, als die Franken und später die deutsch-römischen Könige und Kaiser begannen, das Land östlich der Saale in ihren Herrschaftsbereich zu integrieren. Was immer wieder auch zu kriegerischen Konflikten führte – mal mit den Böhmen, mal mit den Polen, auch mit den Sorben selbst. Dazu kam, dass das Land bis ins 12. Jahrhundert vor allem nur an den leicht besiedelbaren Stellen auch erschlossen war.
Es gibt also eine Menge zu erzählen darüber, wie die frühen Herrschaftsstrukturen entstanden, wie Marken und Burgwarde installiert wurden und vor allem, welche Rolle sie spielten. Schon im ersten von insgesamt 13 Kapiteln zeigen Hermann und Thieme, dass sie eigentlich einen ganz großen Spagat versuchen – zwischen der klassischen linearen Aufreihung historischer Ereignisse und dem Versuch, die Entstehung von Land, Herrschaft und Infrastruktur als Prozess nachzuzeichnen. Im zweiten Kapitel zum Hohen Mittelalter (1100 – 1310) finden sie für dieses Anliegen sogar ein dickes Ausrufezeichen: “Frühe Stadtentwicklung – ein Prozess!”
Aber nicht nur die Städte, die gerade im 11. Jahrhundert gegründet und planmäßig erweitert wurden, waren Teil eines Entwicklungsprozesses, in dem sich zuallererst auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes spiegelte. Auch die Besiedelung und Urbanisierung der noch von großen Wäldern bestandenen Landstriche waren Teil eines Prozesses, ohne den der Aufstieg der Markgrafen von Meißen zu den stärksten Feudalherren im deutsch-römischen Reich nicht denkbar war. Genauso wenig wie ohne die großen Silberfunde im Erzgebirge und das wettinische Familienmanagement, das in späteren Jahrhunderten verhinderte, dass auch das albertinische Sachsen durch Erbteilungen zu einem Flickenteppich marginalisiert werden würde wie das ernestinische Sachsen.Aber auch die Verwaltungsreformen, die es schon unter den sächsischen Kurfürsten und Königen gab, kommen ins Bild – oder besser auf die Karte. Denn Hermann und Thieme wollten ein richtiges Nachschlage-Buch machen, in dem jeder schnell findet, was ihn an Fragen beschäftigt. Jedem Kapitel ist ein zusammenfassender Übersichtstext vorangestellt – in Grün gedruckt, was nicht unbedingt ein guter Einfall des Layouters war. Kurz wird der Leser so eingeführt in den Charakter der Zeitepoche. Danach gibt es auf mehreren Seiten kompakt die wichtigsten Ereignisse in historischer Reihenfolge.
Und danach gibt es einen Teil mit Karten, Grafiken und Tabellen. Die erste Karte auf Seite 15 zum Beispiel zeigt die Burgwarde, Bistumssitze und Markgrafensitze um das Jahr 970. Der Burgward Libci war mit Sicherheit schon dabei. Er war einer der Burgwarde, die sich wie eine Perlenkette entlang der Weißen Elster auffädelten. Zwenkau zum Beispiel gehörte zu dieser Perlenkette, 974 erwähnt, als Kaiser Otto II. den Burgward dem Bistum Merseburg schenkte. Ausführliche Texte erklären das System der Marken und Burgwarde und ihr Zusammenspiel mit der kirchlichen Organisation der Mark.
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Und der Leser bekommt so ein Gefühl dafür, wie die Grundlagen für das geschaffen wurden, was die Autoren für die Jahre 1100 bis 1310 als “Eine zivilisatorische Aufholjagd” beschreiben. Hier tauchen die Wettiner auf, die sich in der Frühzeit mit einem durchaus mächtigen Herausforderer herumschlagen mussten: Wiprecht von Groitzsch. Aber selbst die deutschen Kaiser versuchten lange Zeit, sich hier ein Stammland aufzubauen – Stichwort: Pleißenland. Man darf sich durchaus an moderne Brett- und Computerspiele erinnert fühlen, wenn man hier liest, wie diese Gegenspieler nicht mit Heeren übereinander herfielen, um die Hoheit im Land zu gewinnen (das taten sie auch, aber aus anderen Gründen), sondern mit planmäßiger Kolonisation, mit Kloster-, Burg- und Städtegründung ihren Einflussbereich erweiterten und sicherten.
Am Beispiel Meißen wird der Prozess der frühen Stadtentwicklung anschaulich gemacht. Und eigentlich ist das späte Mittelalter (1310 – 1470) schon das Tor zur Neuzeit. Eine von Krisen gezeichnete Zeit, in der Städte wie Leipzig zu wichtigen Handelsplätzen aufstiegen, in der aber auch die Pest wütete und die großen Judenverfolgungen einsetzten. Es ist aber auch die Zeit des ersten starken Bevölkerungswachstums in den Städten. Die Neuzeit (1470 – 1555) brach ja dann bekanntlich mit dem (zweiten) Berggeschrey und der Reformation los, gipfelte im Schmalkaldischen Krieg und der Wittenberger Kapitulation, mit der auch die sächsische Kurwürde an die Albertiner kam. Unübersehbar: Man befindet sich an der Schwelle zu modernen Zeiten. Die Autoren können erstmals auf klare Haushaltsaufstellungen der sächsischen Fürstenhäuser zurückgreifen und eine große Tabelle mit den Durchschnittseinkommen in verschiedenen sächsischen Städten aufmalen.Für die Frühe Neuzeit (1556 – 1694) verwenden Hermann und Thieme dann wirklich den Titel “Das Kurfürstentum als moderner Staat”. Die Wettiner sind jetzt zu den mächtigsten Reichsfürsten aufgestiegen. Dumm nur, dass das Land dann im 30-jährigen Krieg zwischen die Fronten gerät und selbst zum Kriegsschauplatz wird. Übrigens auch so ein Ereignis, das sich dann 2018 wieder jährt und einer neuen Analyse harrt. Denn für Sachsen gilt ganz unübersehbar, dass dieser Krieg mitten in einen wirtschaftlichen Entwicklungsprozess eingriff, der überfällig war. Wie stark Sachsen – trotz des Verlustes von einem Drittel seiner Bevölkerung – war, zeigte sein rascher Aufstieg in den Folgejahren. Nicht ohne Grund kam 1650 die erste Tageszeitung in Leipzig heraus und konnte August der Starke nicht nur in Dresdener Prunk und Glanz investieren, sondern auch in das Abenteuer eines polnischen Königtums, das ihn in einen Krieg mit Schweden verwickelte, den Sachsen verlor. Das Kapitel “Frühe Neuzeit” gehört aufs engste mit dem Folgekapitel Barockzeitalter (1694 – 1763) zusammen.
Gerade weil sich die Autoren nicht nur auf die üblichen historischen Daten stützen, wird sichtbar, wie sehr sächsische Geschichte von großen, ineinander greifenden politischen, wirtschaftlichen und geistesgeschichtlichen Prozessen bestimmt und geformt ist. Selten erwähnen Historiker, warum Sachsens Kurfürsten sich ihre Königskrone unbedingt in Polen holen mussten (die Chance, sie sich in Böhmen zu holen, haben sie glorreich verpasst).
Und selten wird auch erzählt, warum Sachsen im 18. Jahrhundert und insbesondere im Siebenjährigen Krieg dem eigentlich wirtschaftlich schwächeren Preußen unterlag und am Ende den Preußen auch noch den Krieg bezahlte. Ein Dilemma für alle friedliebenden Staaten bis heute, die ihre Armeen reduzieren und das Geld lieber in Infrastruktur und Kunst investieren. Das Problem mit Preußen hat ja dann den ganzen Rest der sächsischen Geschichte überschattet. Mal kämpfte man mit, mal gegen die Preußen. Auch gegen den preußischen Hegemonialanspruch im 19. Jahrhundert. An jeder Ecke der sächsischen Geschichte lugt ein Stück alternativer deutscher Geschichte vor.
Und man erfährt in ein paar lax hingeschriebenen Sätzen der beiden Autoren auch, wie sehr der Fortschritt eines Landes vom Alter des Herrschers abhängt. Gerade König Friedrich August I., der 60 Jahre über die Sachsen herrschte, wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Bremser der gesellschaftlichen Entwicklung.
Sächsische Geschichte im Überblick
Konstantin Hermann; André Thieme, Edition Leipzig 2013, 19,95 Euro
Die Autoren lassen auch Reichsgründung, Weimarer Republik, NS-Zeit und DDR-Jahre nicht aus. Und selbst die Jahre seit 1989 bekommen ein Kapitel. Aber hier zeigt sich die Schwäche aller Geschichtsschreibung – je näher die Zeit noch ist, umso trüber ist der Blick. Die großen, wirklich wichtigen historischen Linien und Prozesse zeichnen sich erst aus einer historischen Distanz deutlicher ab. Wie wichtig die Kreisreformen und Wahlergebnisse der letzten 20 Jahren sind, wird der Leser für sich entscheiden. Wahrscheinlich wird sich für Manches, was sich heute hinter den Schlagzeilen der Zeit verbirgt, erst in zwei, drei Generationen herausstellen, dass es der eigentliche Leitfaden der Geschichte war, der Kern eines Prozesses, der Sachsens Geschichte tatsächlich bestimmt.
Es ist so ein Buch zwischen Hoppla und Naja: Mit dem Ansatz, Geschichte als Prozess zu beschreiben, gehen Hermann und Thieme deutlich über bisher Gängiges hinaus. Und wer ins Detail schauen will, findet dazu mehr als genug in den Datenleisten, den Karten und Tabellen.
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