Die These ist spitz. Da und dort schießen Patrick Gensing und Andrej Reisin auch etwas über das Ziel hinaus. Warum nehmen sie ausgerechnet die Grünen als Verbots- und Bevormundungspartei aufs Korn? Sind die anderen Parteien nicht viel emsiger hinterher, den Bürger zu bevormunden, zu überwachen, zu gängeln und auszuspionieren? Und nicht jede Kampagne gegen den ungesunden Genuss geht ja aufs Konto der Grünen, auch nicht der SPD. Da kochen eine Menge mehr Politiker und Lobbygruppen mit.

Etwa bei der zwangsweisen Einführung der Energiesparlampe, den rigiden europäischen Rauchverboten, dem Kampf gegen Feiern und Alkohol in der Öffentlichkeit.

Die beiden Autoren kennen ihre Materie. Und spitzen lustvoll zu. Auch weil sie wissen, dass Vieles in der Politik von selber Getriebenen veranstaltet wird. Das ganze Programm der Edition Lingen Stiftung ist darauf angelegt, die Mechanismen von Politik neu zu hinterfragen. Und die von Medien ebenfalls. Denn bei der Etablierung immer neuer Verbote spielen einige Medien im Land eine ganz zentrale Rolle. Auch wenn man es gern abtut als Boulevard-Gedöns – der Ruf wird erhört. Politiker sind keine Dickhäuter. Sie lesen die üblichen Monopolzeitungen, lassen sich von der Stimmung treiben. Und reagieren dann oft nur noch, machen eine ganz große Verbeugung vor dem scheinbar haushoch lodernden Volksempören.

Oh, die diversen Zusammensetzungen mit “Volk” sind wieder im Schwang. Sie tauchen ganz beiläufig auf, aber automatisch. Denn wer glaubt, sich als Politiker um lauter unmündige Bürger und ihr Wohlergehen kümmern zu müssen, der kommt ganz schnell in eine paternalistische Haltung und vergisst, dass die wesentliche Voraussetzung für eine lebendige Demokratie der mündige Bürger ist. Aber da wird’s schon schwierig. Denn was soll der in die mediale Enge getriebene Politiker tun, wenn “die Bürger” scheinbar geschlossen auf den Barrikaden stehen und Verbote fordern? Wenn Facebook-Partys scheinbar zur Katastrophe werden, die Zeitungen immer öfter über brutalste Gewalt berichten und der Drogenkonsum scheinbar schlimmer wird?

Dass an diesen Bildern fast nichts stimmt, auch darauf gehen Gensing und Reisin ein. Sämtliche Statistiken sprechen dagegen. Und wenn sich Journalisten einmal eingehender mit den verfügbaren Statistiken beschäftigen, dann entpuppt sich das Alarm-Furioso schnell als falsch. Als Beispiel gehen die beiden Autoren auf die medial geschürte Stimmungsmache zur Fanszene in den Fußballstadien ein. Die deutschen Fußballarenen sind nicht unsicherer geworden – nur der Beobachtungsfokus hat sich deutlich verschoben. Und die Polizei spielt dabei selbst längst eine gewichtige Rolle. Wo sie noch vor 30 Jahren mit zehn Beamten ausrückte, um die ärgsten Krawalle zu dämpfen, marschiert sie heute in schwer gepanzerten Hundertschaften auf.

Nicht das einzige Thema, wo sich der Fokus drastisch verschoben hat. Warum, fragen sich die beiden Autoren. Was verschiebt sich da in der Gesellschaft?Sie bieten mehrere Thesen an, die alle miteinander in Beziehung stehen. Die eine – die hier eine wesentliche Rolle spielt – ist die zunehmende Privatisierung öffentlicher Räume. Damit einhergehend der Verlust an öffentlichen Freiräumen, in denen der Mensch in der Vergangenheit durchaus auch mal “die Zügel sausen lassen konnte”. Je mehr öffentliche Räume kontrolliert, geregelt und diszipliniert werden, umso mehr werden Verhaltensweisen, die noch vor 30 Jahren nicht mal die Lokalzeitungen interessierten, skandalisiert und politisiert. Und das Erstaunliche: Die Journalisten und Journalistinnen, die darüber schreiben, hinterfragen den “Skandal” nicht mal mehr. Was auch Gründe hat. Auch das erwähnen die beiden Autoren.

Denn eine Gesellschaft, die ihre Kräfte immer mehr in der Disziplinierung der scheinbar anarchischen Bürger verschwendet, hat für die eigentlich wichtigen Themen natürlich keine Zeit und keine Kraft mehr. Geld auch nicht.

Und da wäre man bei in einem der Gründe, die dazu geführt haben, dass der moderne Staat (und nicht nur in der Bundesrepublik) auf dem besten Weg ist, genauso vormundschaftlich zu werden wie der, den die Ostdeutschen erst 1989 abgeschafft haben. Da erinnert man sich sofort an Rolf Henrichs “Der vormundschaftliche Staat”. Da ist er wieder. Gensing und Reisin nennen das, was sie aktuell diagnostizieren, den “Präventivstaat”. Ein Staat, der immer mehr dazu übergeht, all und jedes schon im Voraus zu regeln, zu perfektionieren, zu überwachen.

Über die Flut von Kameras, die immer mehr öffentliche Räume überwachen, wurde ja schon oft genug berichtet. Nur geändert hat sich nichts. Im Gegenteil. Schon der nächste Vorfall im nächsten Raum lässt irgendwo den Ruf nach mehr Kontrolle und Überwachung ertönen. Die Rufe sind unüberhörbar und unüberlesbar. Gewollt ist ein überall für Ordnung sorgender Staat. Auch wenn die Forderungen immer skurriler werden. Die Stadtreinigung schafft es nicht mehr, die Parks zu säubern? Da braucht es mehr Ordnungsstreifen und Strafen für Grillsünder! Verbote sprießen wie Pilze aus dem Boden.

Aber die Frage ist interessant: Warum lassen das freie Bürger mit sich machen? Oder fordern es gar? Und warum werden die Diskussionen darum immer hysterischer? Warum ufert selbst eine Diskussion um den von den Grünen geforderten Veggie-Day derart aus, dass den Grünen die Wähler davonlaufen? Sind die Grünen selbst zu einer ordnungsfanatischen Partei geworden?

Ein Stück weit schon, stellen Gensing und Reisin fest. Und man merkt, dass eigentlich all ihre Sympathien da in diesem bunten irgendwie linken Lager stecken, wo eigentlich (mit den Grünen ganz explizit) auch mal das Aufbegehren, die Einforderung simpelster demokratischer Freiheiten zu Hause waren. Von den anderen, den Konservativen, erwarten sie augenscheinlich nichts anderes mehr als den Ruf nach mehr Ordnung, Sicherheit, Kameras und Kontrollen.

Das taschenkompatible Buch ist zwar erst jetzt im Oktober erschienen, aber geschrieben haben es die beiden Journalisten eindeutig vor der Wahl, zu einer Zeit, als die Diskussionen um Veggie-Day und Pädophilie gerade in Gang kamen. Völlig schräge Diskussionen, gerade in Sachen Pädophilie, dass genau jene Akteure, die vor 30 Jahren noch Prügel für Kinder als legitimes Erziehungsmittel betrachteten, nun mit dem Finger auf die Grünen zeigen, die die Studie sogar selbst in Auftrag gegeben hatten.

Und statt zu antworten: Ja, wir arbeiten das auf, wir wollen das wissen, wir verstecken uns nicht! – zogen die Grünen die Köpfe ein, drucksten herum und entschuldigten sich auch noch. Was für eine Farce. Aber irgendwie logisch. Wer nun seit 20 Jahren verzweifelt versucht, den braven mehrheitlichen Bürgern (die Milva vor 30 Jahren sehr genau als die “schweigende Mehrheit” besang; “Immer mehr” (1982)) alles recht zu machen und sich als keineswegs mehr aufmüpfiger, gar noch bürgerlicher Politiker zu präsentieren, der kommt irgendwann in eine Legitimations-Falle. Milva ist mittlerweile ins “Musikantenstadl” abgerutscht, weil es im ganzen deutschen Fernsehen keine Musiksendung mehr gibt, die sich überhaupt noch mit politisch kritischer Musik abgibt. Da sind wir: mitten im Vergnügungspark.

Aber das Vergnügen ist mittlerweile so falsch wie das Lachen.Und Gensing und Reisin holen ganz weit aus – gehen bis ins Jahr 1938 zurück, um den Grund zu finden für diese erschreckende Verformung der nur noch scheinbar freien Gesellschaft. Denn mit Recht stellen sie fest, dass Menschen, die in “Hartz IV” abstürzen, nicht mehr frei sind. Wer sich selbst mit dieser Armutshilfe noch als anständiger, braver und wettbewerbsresistenter Geldempfänger, der auch für den miesesten angebotenen Job Gewehr bei Fuß steht, beweisen muss, der ist nicht frei.

Und das Fazit 2013 lautet auch: Sowohl SPD wie Grüne haben die Chance, nach der Abwahl 2005 mit der Agenda Schröder (alias 2010) aufzuräumen, nicht genutzt. Sie haben die neoliberalsten “Reformen” der letzten Jahre auf den Weg gebracht – von der Absenkung des Spitzensteuersatzes bis zur Teilprivatisierung der Rente und der Privatisierung wichtiger bundeseigener Unternehmen. Und sie wundern sich nicht mal, dass sie einfach kein neues Profil gewinnen.

Gensing und Reisin gehen natürlich etwas genauer mit der Geschichte des Neoliberalismus um, der ursprünglich mal etwas ganz Anderes war, als dann Milton Friedman und all seine Jünger ab 1970 daraus machten. Aber der neue Liberalismus, den ein paar Exilanten 1938 in Paris aus der Taufe hoben, berührte natürlich die Grundfrage der Zeit: Ab wann beginnt ein Staat die Freiheiten seiner Bürger zu unterminieren? Sie hatten ja die eklatanten Beispiele – Hitler-Deutschland und Stalin-Sowjetunion – direkt vor der Nase. Der Neoliberalismus sollte ursprünglich auch ein Rezept sein, die Grundfreiheiten der Demokratie vor dem Zugriff des Staates zu schützen. Und die Klügsten unter diesen Vätern des Neoliberalismus bezeichneten sich selbst niemals so. Die einfältigeren Schüler lernten dann die wohlfeilen Phrasen aus Chicago und verteufelten den Staat geradezu.

Doch wer den Staat dämonisiert und dafür immer mehr öffentliche Räume privatisiert, holt sich den Teufel auf andere Weise ins Haus. Denn das Fatale an einer Gesellschaft, die das Primat des Marktes predigt, ist, dass sie immer mehr Lebensbereiche (bis ins Privatleben hinein) versucht, diesem Markt zu unterwerfen. Der öffentliche Raum wird zum Marktplatz. Da stören dann auf einmal Säufer, Bettler und Hippies. Da wird die Polizei gerufen.

Aber wer ruft? Ist denn der Bürger nicht glücklich, dass er jetzt die volle Freiheit hat, seines Glückes Schmied zu sein? – Unübersehbar ist er das nicht. Die immer neuen Katastrophen-Filme aus Hollywood sprechen eine eindeutige Sprache. Im Bürger der neuen liberalen Welt kocht die Angst vor der totalen Katastrophe. Da braucht es nicht mal einen Klimawandel. Da braucht es nur einen Thilo Sarrazin, der den verängstigten Bürgern mit zusammengeschusterten Zahlen beweist, dass die Deutschen gerade am Verschwinden sind. Oder noch einfacher: Eine freundliche Einladung vom Chef “Ich muss mit Ihnen kurz mal sprechen …”

Denn wenn Gerhard Schröder mit seiner “Hartz-Reform” etwas gelungen ist, dann ist es der Einbau der Angst ins Bewusstsein aller Deutschen. Jeder weiß, dass ein Verlust seines Arbeitsplatzes binnen zwölf Monaten mit dem Sturz in die Armut enden kann. Und nicht nur das. Da unten hat man ja auch gleich noch das Sanktionssystem eingebaut und – wider das Grundgesetz – auch noch die Möglichkeit geschaffen, dem renitenten Bürger auch noch das bisschen “ALG II” zu streichen. Das schürt nicht nur bei den einfachen Malochern die Angst. Die Angst sitzt längst tief in der Gesellschaftsschicht, die man so gemeinhin Mittelstand nennt. Und das Perfide daran ist: Es gibt keinen “bösen Staat”, keine “finstere Diktatur”, der man das anlasten kann. Der Betroffene ist selber “schuld”, den er hat ja nicht mehr mithalten können im “Wettbewerb”.

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Der Präventivstaat
Patrick Gensing; Andrej Reisin, Lingen Verlag 2013, 9,95 Euro

Gensing und Reisin vermuten, dass es genau diese ganz existenziellen Ängste sind, die sich in den letzten Jahren verstärkt in der Angst vor Dickmachern, Säufern, Rauchern, Rasern, Fußballfans und feiernden Jugendlichen manifestierte. Die gepeinigten Seelen suchen sich ein anderes Ventil – und fordern just Sanktionen gegen alles, was an unserer Gesellschaft noch ein bisschen wild ist.

Während all die Themen, wo konservative Hardliner sogar die Grundrechte mit Füßen treten, um ihre Überwachung und Durchleuchtung der Bevölkerung hin auf “extremistische Übeltäter” noch zu verstärken, kaum Resonanz finden – weder in den üblichen krakeelenden Medien noch beim ach so braven Bürger, der sich nicht gemeint fühlt. Es geht ja nur um “Prävention” und “mögliche Einzeltäter”. Sachsen ist in diesem Überwachungswahn ganz vorne mit dabei.

Es ist ein streckenweise sehr polemisches, aber auch anekdotisches Buch, das Gensing und Reisin hier geschrieben haben. Vielleicht noch nicht ganz schlüssig in der Erklärung. Aber allein schon durch die möglichen Deutungsmuster, die sie anbieten, wichtig und vor allem: hochaktuell.

www.edition-lingen-stiftung.de

Der Milva-Song von 1982: www.geocities.ws/ha_hammer/immermehrmilva.htm

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