Leipzig ist eine Wunderkiste, ein Klein-Paris, die ganze große Welt im Kleinen, das bessere Berlin zuweilen und der Platz, an dem mal was ging. Ganz früher. Und heute? - Die Touristenzahlen sagen: Da ist was, das lebt. Man fährt gern hin, staunt und kommt auch wieder. Aus 99 Gründen oder 111. Das Erstaunliche: Man kann immer neue Stadtführer und Wundersammlungen schreiben - es wird jedes Mal ein anderes Buch.
Was natürlich auch am Autor liegt. Es gibt die klassischen Stadtführer nach wie vor. Sie zählen das Übliche auf, das Allbekannte, meist auch auf altbekannte Weise. Gucken Sie hier, gucken Sie da. Rathaus, Gewandhaus, Auerbachs Keller. Fertig? Hopp hopp, rein in den Bus, Abfahrt.
Doch in letzter Zeit tauchen immer mehr etwas andere Stadtbegleiter auf. Jeder ein durchaus spannender Versuch, von den üblichen Routen abzuweichen, Leipzig von seiner ungewöhnlichen, abseitigen, manchmal auch vergessenen Seite zu zeigen. So ein Versuch ist dieser hier vom Leipziger Krimi-Autor Henner Kotte. Man merkt es bald. Im richtigen Leben führt er die staunenden Leipziger und Angereisten auch gern mal auf Krimi-Touren durch die Stadt. Das Gruseln gehört dazu. Das Wappen auf dem Marktplatz? – Vorsicht, nicht drauftreten, das bringt Unglück. Hier wurde der Mörder Woyzeck hingerichtet. Ein Abstecher zum Rabensteinplatz: Hier stand mal die Richtstätte. Auch Leipzig hatte eine. Ein Abstecher zum Reichsgericht – die Liste der berühmten Leipziger Prozesse ist lang, reicht von Liebknecht bis Dimitroff. Ein Abstecher zum Brühl: Wer kennt schon den berühmtesten Pelzdieb von Leipzig? Karl May hieß der. Und ohne seine Verhaftung in Leipzig hätte er wohl nie seine Winnetou-Romane geschrieben. Wo steht das Denkmal? Es gibt keins.
Kotte ist, man merkt’s auch am Stil, ein Geschichtenerzähler. Sein Leipzig besteht aus Geschichten. Das der anderen Leute zwar auch. Aber die erzählen das meist nicht, weil sie bei den Jahreszahlen und üblichen Standardsätzen hängen bleiben. Wie erzählt man die Sache mit Bach? Klassisch musikalisch? Oder schildert man lieber, wie einst Wilhelm His und Carl Seffner das Gesicht des einst anonym begrabenen Thomaskantors rekonstruierten? – “Bach bekommt ein Gesicht”.Natürlich geht es nicht nur um Mord und Totschlag in diesem ganz eigenen Leipzig-Buch. Die berühmten Leipziger Liebesgeschichten kommen ebenso drin vor, Goethe und sein Käthchen, Lehmanns Witwe und August der Starke (die so gern erzählt wird und wohl nicht stimmt), Clara und Robert, Romeo und Julia in Sellerhausen. Mit Kotte verlässt der neugierige Leser und Läufer tatsächlich die ausgetretenen Pfade. Die Mauern und Traufen und Gedenktafeln sowieso. Mit ihm bekommt die Stadt Leben, Farbe und Gesichter. Man sieht die emsigen Bürger und Bürgerinnen, die Kotte aus dem Ärmel schüttelt, regelrecht laufen und flitzen durch diese Stadt. Auch manche, die anderswo schon aus Scheu, Scham oder vorauseilendem Gehorsam wieder weggelassen werden – die Herren Marx und Uljanow zum Beispiel. Das Gebäude der einstigen Iskra-Gedenkstätte steht noch in Probstheida. Und dass der Portikus des Bayrischen Bahnhofs nur erhalten blieb, weil einst dort Marx und Lenin auf den Zug warteten, das muss erwähnt sein.
Genauso wie der emsige Sprengmeister, einer der “Unzeitgemäßen Zeitgenossen”, die in der Grimmaischen Straße stehen und so modern wirken, als hätte es nie eine “Wende” gegeben. Es werden auch mal Leipziger gewürdigt, die anderswo gar nicht vorkommen und sich verstecken – wie Leibniz im Uni-Innenhof oder der Herr Möbius, den die Mathematiker weltweit kennen – aber die Leipziger kaum. Und wie war das nun mit Dr. Faust in Auerbachs Keller? Eigentlich ging es da wohl nur ums Saufen, weniger ums Studieren. Wer kennt Picander und weiß, wo eine Tafel an ihn erinnert? Und wer denkt beim City-Klassiker “Am Fenster” nun ausgerechnet an Leipzig?
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Man kann durch den Stadtraum laufen, und sieht doch nichts, wenn man nicht abschweift. Die kleine Schnecke auf der Klinke des Neuen Rathauses kann auch für Sturheit stehen. Oder für Ignoranz. Die war hier oft genug zu Hause. 1968 zum Beispiel, als alle Abgeordneten des Stadtrates außer einem für die Sprengung der Paulinerkirche stimmten. Und wie ist es mit dem Freiheitsdenkmal, das nach dem Willen der heutigen Stadtobrigkeit gar keins werden soll?
Braucht Leipzig tatsächlich eins? Ist die Stadt nicht sowieso schon mit fleißigem Vergessen beschäftigt? Auf die ins Pflaster eingelassenen Kettenspuren im Salzgässchen muss man aufmerksam machen – Erinnerung an den niedergeschlagenen Aufstand 1953. Dagegen auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz, wo 1965 die Beat-Demo stattfand, erinnert nichts an diesen noch viel schneller einkassierten Protest. Und am Gebäude der Deutschen Bank gleich gegenüber nichts an den Banken-Crash von 1901, aus dem die Welt hätte etwas lernen können (die Politik wohl auch). Hat sie aber nicht. Und so gab es 1929 und 2008 die Neuauflage: verzockte Gelder, kriselnde Finanzinstitute, strauchelnde Nationalwirtschaften und Aufsichtsräte, die sich als so unfähig zur Kontrolle erwiesen, wie es vorher keiner nie gedacht hätte.
Zwei solcher Skandale sitzen Leipzig ja noch im Nacken und fressen das Geld, das für anderes so dringend gebraucht würde: Sachsen LB und das Werk eines ehemaligen Wasserwerke-Chefs, der die Wasserwerke zum Versicherungsinstitut gemacht hatte.Das war jetzt ein Abschweif. Hätte Kotte gewollt, hätte er für Leipzig auch 199 oder 299 besondere Seiten beschrieben. Nur bei einer irrt er. Was verstört. Es gibt Leipziger Legenden, die werden immer weiter erzählt, obwohl sie nicht stimmen. Die Leipziger Disputation fand wirklich nicht in der von Lotter erbauten Pleißenburg statt, sondern im kurfürstlichen Schloss, das bis zum Schmalkaldischen Krieg etwas weiter nördlich stand und von Lotter dann abgerissen wurde, um einen Teil des Baugrundes für die neue Pleißenburg zu gewinnen, die auch noch das Gelände des Georgenklosters verschlang.
Aber solche Geschichten tauchen immer auf, wenn der Leipziger Anekdotenschatz zum Vorschein kommt. Sie gehören auch zum Repertoire der Stadtführer. Wenn man Ereignisse und Personen verorten kann, bekommt die Stadt eine Atmosphäre. Am Klingerhaus kann man ja so schön an den berühmten Sohn des Seifensieders Klinger erinnern. Das Capa-Haus bleibt uns erhalten und damit auch die Erinnerung an den “Letzten Toten des Krieges”. Das Krochhaus darf an Venedig erinnern – ja und an den protestantischen Arbeitseifer der Sachsen. Und am Südplatz darf man in einer echten historischen Pinkelbude seine Fritten bestellen. Das alles ist weit von dem so gern vom Leipzig-Marketing verwendeten Spruch “The town with no limits” entfernt.
Leipzig hat – zum Glück – seine Grenzen. Auch das macht eine Stadt aus. Leipzig ist keine Automarke, die ihren Kunden verheißen muss, nichts sei unmöglich. Denn dafür seht die Stadt wirklich nicht. (Das war auch der Irrtum der Olympiabewerbung …)
Sie steht wirklich viel mehr für dieses “Omnia vincit labor” am Kroch-Hochhaus. Das Wissen darum, dass jedes große Projekt Geduld, Fleiß und Geld braucht. Dafür steht auch die “kürzeste U-Bahn der Welt”, die am 15. Dezember in Betrieb geht. Dafür steht die erste Ferneisenbahn Deutschlands, die 1839 in Betrieb ging. Dafür steht das größte Denkmal Deutschlands, das 1913 in Betrieb ging.
Leipzig
Henner Kotte, Mitteldeutscher Verlag 2013, 9,99 Euro
Das kommt bei Kotte so beiläufig mit, weil er die alten Unternehmertypen nicht auslässt, die Leipzig mal Dampf gemacht haben – ganz im wörtlichen Sinne. Und die nicht um Fördergelder gebettelt haben, damit sie loslegen konnten. Alle diese Reclam und Brockhaus und Heine und Dufour und Grassi und wie sie alle hießen. Man darf auch stolpern bei Kotte, der auch Ulbricht nicht weglässt und Goetz und die Leipziger Löwenjagd (samt dem Hotel, das dann seinen Namen bekam – und wieder verlor …). Es sind die Geschichten, die den Charakter einer Stadt und ihrer Bewohner verraten. Und so lesen sich Kottes 99 kleine Ausflüge auch. Und wenn ihm der Verlag nicht gesagt hätte, bei 99 sei Schluss, hätte er wohl launig einfach so weiter gemacht. Fast wünscht man sich, die Große Leipziger Stadtgeschichte wird 2015 genauso launig sein. Wird sie aber wohl nicht. Also bleibt dieser neue Stadtentdecker als Ausweich für alle, die Leipzig mal nicht so ernst und trocken erleben wollen.
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