Die Buchpremiere in der Stadtbibliothek am 23. Oktober war gleich eine doppelte: Steffi Böttger stellte nicht nur ihre große Biografie über den Leipziger Journalisten Hans Natonek (1892 - 1963) vor, sondern konnte zusammen mit Verleger Mark Lehmstedt auch die zweite Sammlung publizistischer Texte von Natonek vorlegen - seine Texte aus den Jahren des Exils von 1933 bis zu seinem Tod 1963.
Eigentlich hatte es nur ein Buch werden sollen – der Band mit den Exil-Texten mit einer ordentlichen Biografie zu Hans Natonek. Aber die emsige Spurensuche von Steffi Böttger hat so viel Material zum Leben dieses Mannes ergeben, dass die Biografie fast von allein zu einem eigenen Buch gedieh. Oder wohl besser formuliert: Diese Lebensgeschichte drängte geradezu danach, ausführlicher erzählt zu werden. Gerade weil sie in Vielem so untypisch scheint, dissonant da und dort, bis hin zur natürlich wichtigen Frage: Warum blieb Hans Natonek auch nach 1945 lieber in den USA, versuchte sich als englischsprachiger Autor zu etablieren, was ihm nicht gelang?
Aber welche Entscheidungen im Leben eines Menschen sind schon rational? Erst recht, wenn er in wirklich irrationale Zeiten geworfen wird. Eben noch der geachtete Feuilletonchef einer deutschlandweit wahrgenommenen liberalen Zeitung aus Leipzig, Familienvater, sogar gelesener Romanschriftsteller – und über Nacht dieser Umsturz im Land, der mit dem Furor aus Hass und Verachtung seine Ansprüche geltend machte und alle um Einkommen und Heimat brachte, die dem Feindbild des triumphierenden Faschismus entsprachen. Er war ja nicht allein, dieser Natonek.Er war bestens vernetzt mit den klugen, kritischen Geistern seiner Zeit. Viele von ihnen traf er wieder in all den Exilen, die jetzt vor ihm lagen. Obwohl er gern dageblieben wäre. Er war genauso hellsichtig wie sein Freund Erich Kästner, den er in Berlin just an dem Tag traf, an dem ihm seine Ausbürgerung mitgeteilt worden war. Doch Kästner war kein Jude. Er konnte das Wagnis, im Land zu bleiben und Camouflage anzulegen, zumindest wagen, ohne mit seiner Ermordung rechnen zu müssen.
Natonek hingegen stand auf jeder Liste, die die deutschen Häscher mitbrachten, wenn sie wieder ein neues Land besetzten. Nur knapp entrann er ihnen, als sie 1938 Tschechien attackierten, 1940 noch viel knapper aus Paris. Zwei Mäntel, die er ins Pfandhaus brachte, retteten ihn aus der von Panik erfassten Stadt. Nur fünf Koffer musste er zurücklassen, die sofort Beute der Gestapo wurden und die heute in Berlin die wichtigste Quelle sind für Natoneks Leben und Flucht bis 1940. Aber auch in Marseille konnte Natonek den Kopfjägern nur knapp entwischen. Er schreibt selbst davon, wie verstörend die acht Jahre auf der Flucht waren. 1941 erreichte er endlich, mit einer ärmlichen Ledertasche als einzigem Besitz, New York.
Für immer fremd: Die Biografie des fast vergessenen Leipziger Feuilletonisten Hans Natonek
Eigentlich hatte es nur eine Einleitung …
Höchste Zeit für diese Wiederentdeckung: Hans Natonek – Im Geräusch der Zeit, Teil 1
Nichts ist so alt wie die Zeitung …
Höchste Zeit für diese Wiederentdeckung: Hans Natonek – Im Geräusch der Zeit, Teil 2
Hans Natonek war zwar wesentlich …
Wie andere Intellektuelle im Exil, nutzte auch Natonek jede Gelegenheit, weiter zu veröffentlichen. In den bürgerlichen Zeitungen der noch verbliebenen freien Welt – vom “Prager Tagblatt” bis zur “Berner Zeitung”. Später in den Zeitungen, die die Exilanten im Ausland gegründet hatten, von der “Neuen Weltbühne” bis zur “Pariser Tageszeitung”. Und wer nach dem ersten Band mit seiner Publizistik von 1917 bis 1933, der 2006 im Lehmstedt Verlag erschien, das Gefühl hatte, da könne einer nicht wieder anknüpfen, das geht nicht, wie soll man so einen Stil wahren, wenn man keinen direkten Zugriff auf eine Zeitung wie die “Neue Leipziger Zeitung” hat, der wird verblüfft sein. Natonek konnte.
Auch wenn man zugrunde legt, dass Steffi Böttger streng ausgewählt hat. Aber das, was jetzt in diesem Band zu lesen ist, zeigt bis zum Schluss den begnadeten Feuilletonisten, stilsicher, emotional, pointiert. Eine Art des Schreibens, wie man sie aus heutigen Zeitungen nicht mehr kennt, weil das Spielerische, Anekdotische, Essayistische aus ihnen verschwunden ist. Doch selbst in den 1930er Jahren pflegten viele Zeitungen das noch. Es gehörte zum Standard einer liberalen Bürgerlichkeit, die man heute geradezu erschreckend vermisst. Die Nationalsozialisten haben viel mehr Geschirr zerschlagen, als Vielen heute überhaupt bewusst ist. Stefan Zweig hat es beschrieben in seinen Erinnerungen “Die Welt von Gestern”, erschienen 1942.
Dazu gehört bis heute die schwelende Verachtung für alles Intellektuelle, für kritische Haltungen und eine wirklich liberale Publizistik. Jeder Satz, jeder Gedanke stehen heute unter dem Generalverdacht einer Parteisache, wird abgewogen daraufhin, ob das nun rechts oder links ist. Oder eher diese flaue, graue Mitte, die heute viele Leute als Bürgerlichkeit begreifen. Und die nichts ist als ein Nebel voller Vorurteile und Ängste. Weshalb auch Worte wie Menschenwürde, Freiheit, Toleranz so leer verklingen im Raum. Als wäre es nichts mehr wert, sie zu verteidigen.Wie man sie mit der Feder verteidigen kann, haben Leute wie Natonek gezeigt. Natürlich änderten sich seine Themen nach 1933 deutlich. Immer öfter tauchen nicht nur kritische Artikel zu diesem Kulturkollaps auf, den Deutschland unter den Nazis erlebte, Geschichten über Flüchtende und übers Exil. Es tauchen auch Artikel auf, in denen er mit Herzblut für das Land eintritt, das ihn 1933 selbstverständlich aufnahm und das 1938 zur Beute der Nationalsozialisten wurde. Noch 1940 wird sich Natonek für die tschechischen Exil-Truppen mustern lassen. Aber immer wieder gibt es bei ihm auch Geschichten, die wie Gleichnisse zu lesen sind – wie “Der Große Wartesaal”. Nicht viele Exilanten haben ihre Flucht und Heimatlosigkeit so genau und tiefgründig beschrieben. Was eine hohe Kunst ist. Denn er steckte ja stets drin in diesem Dilemma, in der ewigen Sorge um ein Einkommen, um einen neuen Pass, einen Fluchtweg, in der Angst vor den Schergen, deren Gefühllosigkeit ihm sehr wohl bewusst war. Natonek wusste, wie ein Staat funktioniert, der nur noch die Angst kennt, eingepflanzt in jedes einzelne Glied.
Da fühlte sich nicht nur Natonek an Kafka erinnert. Und er versteht seinen alten Freund Joseph Roth, der sich in Paris zu Tode säuft, sehr gut, wenn der seine Romane in einem fernen und idealisierten k.u.k.-Österreich ansiedelt. Es gibt Autoren, für die ist eine vom Wahnsinn besessene Gegenwart nicht auszuhalten. Natonek wäre kein geborener (Rand-)Prager gewesen, wenn er das nicht selbst zu genau gewusst hätte. Als sich die finsteren Wolken über der tschechischen Republik zusammenbrauten, entdeckte er allerorten den guten alten Schwejk wieder, den großen Verstellungskünstler, der die brüllenden Militärchargen mit listiger Einfalt auszutricksen verstand.
Etliche Texte in diesem Band wurden noch nie veröffentlicht, fanden sich als Typoskript im Nachlass von Hans Natonek, darunter viele, die er wohl auch zur Selbstverständigung schrieb – über seine Flucht aus Frankreich etwa oder seinen Versuch, die USA als neue Heimat für sich zu erschließen. Man lernt ihn ganz gut kennen, diesen Natonek, und man versteht seine Ängste und Hoffnungen, seine Verzweiflung und auch sein Verzagen. Das Einzige, was er publizistisch nicht verarbeitet hat, ist sein Familienleben. Das kommt eher in verwandelter Form in seinen Romanen vor.
Letzter Tag in Europa
Hans Natonek; Steffi Böttger, Lehmstedt Verlag, 24,90 Euro
Aber es fehlt nicht wirklich. Dieser zweite Band mit Publizistik von Hans Natonek rundet das Bild ab. Hier darf der Autor auch noch einmal wehmütig zurückschauen. Mehrere Artikel beschäftigen sich mit dem Untergang der Zeitungen, bei denen er arbeiten durfte. Den Text “Letzter Tag in Europa” schrieb er schon im amerikanischen Exil. Aber auch hier wird deutlich, wie sehr ihn der Verlust der europäischen Kultur schmerzte und wie bewusst es ihm war, dass seine Brillanz im Schreiben aufs Engste mit dieser Kultur verbunden war. Mit dem Blick zurück über den Großen Teich wird ihm deutlich, was dieses Europa eigentlich war. Er ahnte die Gefahr, den Schritt in die neue Sprache und die neue Kultur nicht zu schaffen. Er ahnte nur nicht, wie groß diese Kluft für ihn werden würde.
Und so dünnen denn auch die Texte aus, die von seiner Zeit in den USA bis zu seinem Tod 1963 berichten. Er war schon zu Lebzeiten ein Vergessener. Umso wertvoller ist diese Wiederentdeckung, die Steffi Böttger hier geleistet hat.
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