Im Berliner Verlagshaus J. Frank gibt es auch eine kleine Reihe "Poeticon", die sich mit all den lästigen, schönen, verwirrenden und verblüffenden Fragen beschäftigt, über die Literaturmacher so stolpern. Es gibt ja bergeweise Gedrucktes. Aber wo fängt wirklich ein Gedicht an? Was ist Stil? Und was ist schlechter Stil? Oder gibt es überhaupt noch Maßstäbe für einen guten Stil, wenn gilt: Alles ist möglich?

Immerhin hielt das 20. Jahrhundert die Moderne parat und die Postmoderne, wurden Götter und Schulen gestürzt. Der Buchmarkt wurde geflutet. Bestsellerlisten bestimmen, was gekauft wird. Und trotzdem gibt es immer noch Leute, die gern schreiben möchten. Literarisch schreiben. Sie versuchen es im Selbstverlag, besuchen Hochschulen, Workshops und Seminare, beteiligen sich an Wettbewerben, beschicken Literaturzeitschriften, betreiben Blogs oder treffen sich gar in Lyrikwerkstätten, um mit anderen über ihre Gedichte zu reden, zu diskutieren, was zu lernen. Als wenn Schreiben ein Handwerk wäre, das man lernen könnte.
Kann man, sagen die Lehrer. Kann man vielleicht doch nicht, sagt Bertram Reinecke. Er ist nicht nur selbst Autor und Verleger, er leitet auch gern solche Werkstätten, weiß also, was da passiert – und was nicht. Er weiß auch, dass nicht nur Profis und solche, die es werden wollen, solche Werkstätten besuchen. Aber sie sind natürlich die Mehrzahl. Und sie haben nicht nur Ambitionen, sondern auch Erwartungen. Dabei geht es nicht unbedingt um Ruhm. Aber eben doch um ein paar andere menschliche Eigenschaften, die sich selbst in der illustresten Runde ihr Recht verschaffen. Das ist die “Gruppendynamik”, von der Bertram Reinecke schreibt. Und die man natürlich nicht ausknipsen kann. Selbst Dichter sind nur Menschen. Und es geht natürlich auch um was. Denn warum schreibt einer Gedichte?

Oder das, was man so bezeichnet. Denn mittlerweile hat sich der Formenkanon ja so aufgelöst, dass man oft nur noch an der Kürze des Textes merkt, dass es ein Gedicht sein könnte. Wer alte Schablonen anwendet und Erwartungen aus alten Poetik-Lehrbüchern ausgräbt, könnte gewaltig daneben liegen und dem Autor unrecht tun. Was noch vor Jahrzehnten galt, wo gereimt und gestropht wurde und jedes Versmaß sitzen musste, ist überholt. Natürlich kann jeder reimen und in Verse pressen, was er will. Oder sie. Da tut dann die Form so, als würde sie den Inhalt zur Lyrik machen, auch wenn es nur die üblichen Landschafts-, Liebes- oder Jahreszeitengedichte sind.

Aber die Form macht noch kein Gedicht. Und der Inhalt? – Der Inhalt auch nicht. Man kann die alten Inhalte auch in moderneren, freieren Varianten präsentieren, und es wird trotzdem kein gutes Gedicht. Irgendwie sieht es nach Gedicht aus. Aber es “funktioniert” nicht, es löst beim Zuhörer oder Leser nichts aus. Keine Begeisterung, keine Betroffenheit, kein Staunen, nichts.

Oder das Gegenteil dessen, was man erreichen wollte: geballte Abwehr in der Gruppe, Unverständnis, Zorn. Was nicht unbedingt am Autor und seinem Text liegen muss. Denn auch in der Literatur gelten Gruppenzwänge. Nicht nur in Literaturwerkstätten, merkt Reinecke an, sondern überall, wo sich Leute mit Literatur beschäftigen, bewerten und auswählen. Auch in Literaturmagazinen und in Zeitungsfeuilletons, wo die Literaturkritiken geschrieben werden. Es bilden sich Gruppenerwartungen heraus – manchmal auch einsame Richtstühle gestrenger “Literaturpäpste”, die ihre Sicht auf das, was “richtige Literatur” zu sein hat, durchdrücken. Oft mit verbaler Wortgewalt. Das kommt auch in Lyrikwerkstätten vor, weiß Reinecke. Dann drückt der Seminarleiter seinen Literaturgeschmack in die Gruppe. Es bildet sich ein “Stallgeruch”, wie Reinecke sagt. Das verschafft den Teilnehmern logischerweise nicht viel Selbstvertrauen. Auch nicht unbedingt den Mut, verstehen zu wollen, warum ihre Texte funktionieren – oder warum nicht.

Die besten Werkstätten, so scheint es, leben davon, dass der Seminarleiter es schafft, ein Klima zu erzeugen, in dem alle voneinander lernen wollen. Offen sind für Anregungen und Lesarten – aber die anderen nicht verdammen, weil sie vom gerade gültigen Kanon abweichen. Es ist also durchaus auch ein Büchlein, das Anregungen gibt für Werkstätten aller Art. Literatur ist ja, so betrachtet, nur ein besonderer Stoff. Ein spannender natürlich, wenn man weiß, was Worte alles vermögen. Und wie sehr unsere Sprache Träger unserer Emotionen, Verwirrungen, Verblüffungen sein kann. Oder das Gegenteil, wenn man Sprache benutzt wie Fertigware.

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Gruppendynamik
Bertram Reinecke; Asmus Trautsch, Verlagshaus J. Frank, 7,90 Euro

Da kann man auch übers Ziel hinausschießen und Texte fabrizieren, die dann keiner mehr versteht. Oder die so abgehoben sind, dass das komplette Feuilleton in Grimm verfällt: Wie kann der nur! – Da ist dann natürlich die Frage, wie offen einer ist für den Widerhall. Denn verstanden werden wollen ja die meisten Autoren. Und zwar sehr genau. Dazu eignet sich das Gedicht geradezu: Das Sagbare prägnant und wirksam zu sagen. So genau, dass nichts fehlt und nichts zu viel ist. Das ist Arbeit. Mehr Arbeit, als sich Menschen meist mit Texten aller Art geben. Aber irgendwie scheint der Wille, genau diese Arbeit zu leisten, so ungebrochen wie je. Und das ist sogar tröstlich in einer Zeit des regierenden Blabla. Wer von Worten wieder angeregt werden will, liest wieder oder noch immer Gedichte. Oder sucht sucht sich eine lebendige Lyrikwerkstatt, wo er sich als Teilnehmer wohl fühlt und angeregt, aus Worten mehr zu machen als das Übliche.

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