Es gibt Bücher, von denen denkt man: Die müsste es doch längst geben. Irgendwo im Bücheruniversum nehmen sie ganz selbstverständlich ihren Platz ein. Und dann sucht man und findet: Bücher über New York, Stadtführer durch New York, Bücher über Deutsche in Amerika. Aber dieses eine, von dem man dachte, es müsste existieren, ist nicht da. Dieses hier zum Beispiel: Das deutsche New York.

Es hätte auch spielend ein 700-Seiter im kleineren Format werden können. Die Historikerin und Publizistik Ilona Stölken hat sich tief in die transatlantische Beziehungsgeflechte eingearbeitet. Denn wie kommen Hunderttausende Deutsche nach Amerika? Und warum ausgerechnet nach New York? Eine Hafenstadt, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht einmal die Andeutung dieses gewaltigen “Big Apple” war, der heute die Ankommenden fasziniert. Doch binnen weniger Jahre lief es Philadelphia den Rang ab. Und seitdem war New York für viele Millionen Einwanderer aus der Alten Welt das Tor in die USA. Auch für die Deutschen, die mit dem Einsetzen der Restauration nach den Napoleonischen Kriegen aus purer wirtschaftlicher Not die 39 deutschen Kleinstaaten verließen.

Das ganze 19. Jahrhundert war geprägt von immer neuen Auswanderungswellen aus Deutschland. Stölken schildert diese Auswanderungsbewegungen und versucht auch, ein Porträt dieser Deutschen zu zeichnen, die sich auf den Weg ins unbekannte Amerika machten, dort ihre Chance auf ein freies Leben suchten – ohne feudale Fesseln und Bevormundungen und ohne die kleinstaatlichen Schranken, die das Gewerbeleben drückten. Es passt so gut zur gerade einmal wieder so pompös inszenierten Völkerschlacht bei Leipzig, die eben für alles Mögliche steht, nur nicht für Völker-Befreiung. Und auch 1830 und 1848 scheiterten die Versuche in Deutschland, endlich einen modernen Staat mit moderner Verfassung zu erringen. Jeder neue Rückschlag in der politischen Entwicklung Deutschlands löste neue Flüchtlingsströme aus, die über Bremen/Bremerhaven oder Hamburg den Weg ins gelobte Land jenseits des Atlantiks suchten.Und mit jeder Wanderungswelle entstanden im Zielhafen New York neue Netzwerke, die den Neuankömmlingen die Integration erleichterten. Die Deutschen waren willkommen. Denn sie waren zumeist gut ausgebildet, Handwerker zumeist, die auch den Aufbau einer neuen Selbstständigkeit nicht scheuten. Aus vielen dieser Neugründungen entstanden im Lauf der Zeit große Unternehmen und weltbekannte Konzerne. Dutzende von ihnen blühten in New York auf. Erfindergeist und Unternehmerlust wurden – anders als in der verlassenen deutschen Heimat – mit Erfolg belohnt. Der amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1866 tat ein Übriges, vielen Unternehmen von Deutschstämmigen zum Durchbruch zu verhelfen.

Und auch mit der deutschen Reichsgründung 1871 rissen die Auswandererströme nicht ab. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Strom dünner. Aber da hatte New York längst 3 Millionen Einwohner und hatte die Insel Manhattan fast zugebaut. Die gewaltige Brooklyn Bridge, entworfen von dem in Mühlhausen geborenen John (Johann August) Roebling, verband Manhattan mit dem Festland. Die Ufer waren von gigantischen Industrieanlagen besetzt. Und mehrmals schon hatte sich das “German Village” verlagert, war mitgezogen mit der Entwicklung der Stadt und der Entwicklung der Einkommen. Die eingewanderten Deutschen wurden Bankiers und Brauereibesitzer, Zuckerfabrikanten und Kaufhausmagnaten. Hunderte Zeitungen und Wochenschriften kamen in deutscher Sprache heraus.

Stölken lässt aber auch die anderen Facetten der Emigration nicht aus. Denn viele Ankömmlinge hatten nicht mehr anzubieten als ihrer Hände Arbeit. Und sie mussten unter zum Teil armseligsten Bedingungen arbeiten und leben. Denn nicht nur aus Deutschland hielt der Zustrom der Flüchtlinge an, die Einwandererströme kamen auch aus Irland, Italien, Polen, Russland … Deutschland war ja nicht das einzige Land, in dem die gesellschaftlichen Bedingungen erstarrt waren und die wirtschaftliche Entwicklung behinderten. Der Strom der Arbeitsuchenden drückte den Preis. Das schürte die Arbeitskonflikte, an denen sich auch die Deutschen beteiligten. Bestens organisiert. Auch wenn sie schnell lernen mussten, dass eine sozialistische Partei in den USA keine Chance haben würde.

Doch die Hochachtung ihrer Nachbarn verscherzten sie sich gründlich, als sie 1914 und 1915 in den Kriegstaumel des Wilhelminischen Kaiserreichs einstimmten. Die Reaktion war deutlich und harsch. Und genau das beschleunigte noch den Prozess, der sowieso schon im Gang war, die zunehmende Verschmelzung der Deutsch-Amerikaner mit der englischsprachigen Mehrheit. 100 Jahre später war von diesem “Kleindeutschland” in New York nicht mehr viel zu sehen. Erst in jüngerer Zeit begannen die New Yorker selbst, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen.

Und auch die Einwanderströme aus Deutschland unterschieden sich. Ein wesentlicher Teil waren die Juden aus Deutschland, die auch schon im 19. Jahrhundert in großer Zahl andockten und ihrerseits neue Impulse für Amerikas Wirtschaft mitbrachten. Und vor allem die Freiheit genossen, dieselben Rechte wie alle ihre Mitbürger zu haben. Da konnte noch niemand ahnen, dass die Deutschen 1933 beginnen würden, die Juden mit Gewalt zur Auswanderung zu zwingen. In einer Zeit, in der die USA selbst noch mit den Folgen der Wirtschaftskrise zu kämpfen hatten.Und nicht nur Juden versuchten sich aus Europa ins rettende Amerika zu flüchten. Die USA hörten nie wirklich auf, das Zufluchtsland all jener Deutscher zu sein, die es unter den jeweiligen politischen Voraussetzungen zu Hause nicht mehr aushielten. In den 1920er Jahren war es die blanke Not, die die Auswandererströme anschwellen ließ. Und ganz hinten im Buch gibt es auch die Zahlen zu den Auswanderungen nach 1945. Immer war es ein Risiko. Mancher schaffte auch den Sprung in die fremde Kultur nicht.

In großer Detailfülle erzählt Stölken von den komplexen Wechselwirkungen, die die einwandernden Deutschen in New York auslösten und selbst erlebten. Und wie sie damit umgingen. Und die meisten wollten Amerikaner werden, spätestens ab der 2. oder 3. Generation dann ohne das “Deutsch”-” davor. Sie wollten in ihrer gewählten Heimat Erfolg haben. Auch wenn sie hier den Kapitalismus in seiner reinsten Form erlebten, geprägt von immer neuen Krisen. Was auch einige der Deutschen zu knallharten und auf ihren Profit bedachten Unternehmern machte. Sie bereicherten ihr neues Heimatland – und wurden selber reich.

Viele dieser Pioniergestalten stellt Stölken besonders vor. Sie erzählt, wie die Deutschen zeitweilig die Kultur New Yorks zu dominieren schienen – und wie ihre Vereine und Gesellschaften sich irgendwann aufzulösen begannen. Im Grunde ein faszinierender Prozess, der ein Stück der Seele New Yorks beschreibt, die bis heute die Einwanderstadt per definitionem ist, auch wenn es heute andere Minderheiten sind, die New Yorker Vierteln und Quartieren ihren Stempel aufdrücken. Die Deutschen scheinen fast verschwunden. Da und dort fanden Besucher im späten 20. Jahrhundert noch ein paar nostalgische Spuren.

Bis heute hat New York jede Einwanderwelle geschluckt. Das hat diese Stadt reich und lebendig gemacht. Und zum Vorbild aller multi-kulturellen Städte der Welt.

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Das deutsche New York
Ilona Stölken-Fitschen, Lehmstedt Verlag, 29,90 Euro

So ein wenig merkt man beim Lesen, was Deutschland mit all den Auswandererwellen auch verloren ging. Und wie seltsam dieses Deutschland aus der New Yorker Perspektive immer gewirkt haben muss mit seinem Kaiser und seiner preußischen Engstirnigkeit, mit seinem Hegemonieanspruch, der zwei Mal so katastrophale Ergebnisse zeigte. Die Geschichte der New Yorker Deutschen zeigt auch, wie ein Land mit seinen Einwanderern umgehen kann – ganz pragmatisch und ohne den deutschen Wahn, alles regulieren und vorschreiben zu wollen.

Es ist ein Buch, das mit jedem Kapitel auch auf Deutschland zurückspiegelt – in all den Verrücktheiten, die die Deutschen nach Amerika mitnahmen. In all den Verschrobenheiten, die sie zurückließen. Und die es in großen Teilen bis heute gibt. Großformatig ist es natürlich geworden, weil es voller Bilder aus der historischen Schatzkiste steckt, die zeigen, wie sehr sich New York in diesen knapp 200 Jahren veränderte.

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