Wer in diesem Herbst nach Lesefutter zur Völkerschlacht bei Leipzig, Napoleon und den (anti-)napoleonischen Kriegen sucht, der findet so viele neue Titel, dass der Überblick schwer fallen könnte. Dazu auch viele Einzeldarstellungen und kompakte Übersichten. Trotzdem merkt man bald, dass man mit Feldherren, Armeen, Waffen und Einzelgefechten durcheinander kommt. Keine schlechte Idee also: eine Art kleines Lexikon der Völkerschlacht.
Steffen Poser, Leiter des Leipziger Völkerschlachtdenkmals, hat es nicht extra Lexikon genannt. Dann hätte es noch viel dicker werden müssen. Wert wäre es das, denn zumindest eines kann man zu dieser Schlacht bei Leipzig, die die größte Massenschlacht des frühen 19. Jahrhunderts war, sagen: Sie wurde zum Dreh- und Angelpunkt der künftigen deutschen und europäischen Geschichte. Hier entschied sich nicht nur das Schicksal Napoleons oder Sachsens, sondern auch das Polens und der norddeutschen Fürstentümer. Hier entschied sich die künftige Entwicklung eines einigen Deutschlands, hier wurden aber auch die Grundlagen gelegt für das Mächtegleichgewicht der nächsten 50 Jahre. Weder Wiener Kongress noch die Karlsbader Beschlüsse sind ohne diese Schlacht bei Leipzig denkbar.
Noch mehr als die Schlacht bei Waterloo ist die bei Leipzig eine “Sternstunde der Menschheit” im Zweigschen Sinne, auch wenn Stefan Zweig dann doch lieber das Versagen des Marschalls Grouchy bei Waterloo in seine Sammlung der Sternstunden aufnahm. Vielleicht aus einem Moment der Schadenfreude heraus: Nur einmal zeigen, was dabei herauskommt, wenn hochrangige Befehlsausführer sich stur an die Befehle halten.
Solche Typen gab es auch bei Leipzig. Es gab aber auch ein ganzes Ensemble unterschiedlichster Kommandeure. Wenn der Umgang der Historiker mit dieser Schlacht, die im Grunde sogar schon vom 14. Oktober an vor den Toren Leipzigs herankochte, in den letzten Jahren etwas gebracht hat, dann einen etwas anderen Umgang mit den Hintergründen der Schlacht und den Beweggründen der Akteure. Das bloße Auflisten der Truppenbewegungen, Mannschaftsstärken, Aktionen hat die letzten 200 Jahre nicht wirklich einen Erkenntnisgewinn gebracht – außer den eifrigen Schlachtennachstellern und Zinnfigurenfreunden.
Doch die eigentlichen Fragen schienen lange nicht wichtig: Warum ausgerechnet bei Leipzig? Und warum dieser Verlauf, der mit dem Reitergefecht bei Liebertwolkwitz (14. Oktober) das erste unkalkulierte Moment hat und mit dem Vorpreschen der Schlesischen Armee am 16. Oktober das zweite. Warum dieses Zögern Bernadottes mit der Nordarmee und dann das fast chaotische Überlaufen eines Teils der sächsischen Truppen am 18. Oktober? Warum diese widersprüchlichen Aussagen über den Hauptbefehlshaber der Alliierten, Fürst Schwarzenberg?
Schon mit dem Frühjahrsfeldzug 1813 deutete sich an, wohin sich die europäische Politik nach dem Sieg über Napoleon entwickeln würde. Auf dem Schlachtfeld von Leipzig waren schon alle widerstreitenden Interessen der Alliierten präsent. Keiner vertrat sie wohl idealer als ausgerechnet der Diplomat Schwarzenberg, für den Poser natürlich eine Lanze bricht. Nicht nur in dem kleinen Text, der Schwarzenberg selbst gewidmet ist. Denn er hatte nicht nur die Partikularinteressen seines eigenen Herrn, des österreichischen Kaisers, umzusetzen. Er musste auch den russischen Zaren behutsam anfassen, der mit Napoleon noch ein großes Huhn zu rupfen hatte – aber seine Nachkriegs-Schnäppchen schon fest vor Augen.Mit dem König von Preußen war wohl leicht umzugehen. Aber der hatte mittlerweile eine ganze Garde von Befehlshabern, die mit seiner Versagertruppe von Jena und Auerstedt nichts mehr zu tun hatten. Und sein General Blücher war ein Mann, der hatte sein Handwerk tatsächlich noch beim Alten Fritz gelernt. Und so benahm er sich auch. Allein die Reihe der Marschälle und Generäle aus allen beteiligten Armeen füllt viele Seiten des Buches. Der Leser erfährt auch ihre Lebensgeschichte und kann sie damit auch in die politischen Entwicklungen der Zeit vor der Schlacht und danach einordnen.
Immerhin kämpften ja die Polen in der Einheit von Poniatowsky auch um die Freiheit ihres eigenen Vaterlandes. Und der österreichische Kaiser musste auch noch ein bisschen auf seinen Schwiegersohn Napoleon Rücksicht nehmen. Dass die Schlacht mit mehr als 500.000 beteiligten Soldaten die Stadt, die Region und vor allem die sanitären und medizinischen Möglichkeiten der Zeit bei weitem übertraf, auch das wird deutlich. Auch wenn Poser das Stichwort Wetter diesmal weglässt. Dafür ist der Wiener Kongress drin, der zur Leipziger Schlacht gehört wie die Henne zum Ei. Und auch Stichworte wie Katzbach und Diebitsch sind enthalten. Denn die neuere Forschung hat noch deutlicher aufgezeigt, wie sehr die Schlacht bei Leipzig Teil der militärischen Entwicklung seit Sommer 1812 war, als Napoleon mit der Grande Armée Richtung Moskau aufbrach.
Was dann natürlich die psychologischen Linien sichtbar macht, ohne die Geschichte nicht wirklich begreifbar wird. Denn ohne die durchaus mutige Konvention von Tauroggen ist der Stimmungswandel in Preußen nicht denkbar, ohne das Desaster des Russlandfeldzugs auch der Stimmungswandel in Sachsen nicht.
Ohne Völker schlägt man keine Schlachten. Auch wenn der Begriff “Völkerschlacht” zuerst in Berichten preußischer Offiziere auftaucht. Oberst Müffling hat ihn am 19. Oktober 1813 wohl als erster in seinem Feldbericht verwendet, vielleicht zutiefst beeindruckt von den drei bunt gemischten Armeen der Alliierten, in denen sich auch Kosaken und Kalmücken tummelten. Immerhin war es auch die größte Armee, die ein Schwarzenberg bis dato kommandieren durfte.
Aber es waren trotzdem nur aus der Sicht der Militärs die Völker, die sich hier schlugen. Auch wenn die diversen Feldherren auf dem Schlachtfeld nichts weniger im Sinn hatten, als für irgendwelche Völker eine Schlacht zu schlagen. Wirklich in den Sprachgebrauch ging das Wort Völkerschlacht erst Jahrzehnte später über, als es auch im nationalistischen Sinne gebraucht und missbraucht wurde.Für alle, die das Leipziger Schlachtfeld noch nicht kennen, sind natürlich auch alle Dörfer verzeichnet, die ins Zentrum des Schlachtgeschehens rückten. Zeitzeugen und wichtige Gebäude im Zusammenhang mit der Schlacht bekommen einen eigenen Artikel. Aber auch die ideologischen Hintergründe werden beleuchtet, wenn etwa Leute wie Friedrich Ludwig Jahn erwähnt werden. Mit Hardenberg oder Metternich zum Beispiel rücken die Männer ins Bild, die für die Politik dieser Zeit prägend wurden. Auch die Lützower tauchen auf, auch wenn sie an der Schlacht nicht beteiligt waren.
Aber gerade die Fülle des Materials, das mit Querverweisen selbst wieder dicht verwoben ist, zeigt deutlich, wie komplex die Ereignisse im Jahr 1813 tatsächlich waren. Komplexer, als es ein Begriff wie der ebenfalls aus preußischer Propaganda geborene Begriff der Befreiungskriege zu fassen vermag. Nicht zu vergessen: Auch die Engländer mischten kräftig mit, auch wenn sie selbst nur mit einer Raketeneinheit vor Ort dabei waren. Aber gerade die Preußen waren nach all ihren verlorenen Schlachten auf Waffenlieferungen aus England angewiesen. Und einige dieser Waffen – wie der Blüchersäbel – haben ebenfalls ein Stichwort bekommen.
Wer will, kann hier also auch schon die frühen Formen der zunehmend industrialisierten Waffenproduktion in Europa sehen – und die Schlacht als ein frühes Experimentierfeld für neue Waffengenerationen. Man begegnet auch Napoleons Bruder Jerome, dem König von Westphalen, der zwar kein begnadeter Feldherr war – aber augenscheinlich ein durchaus moderner Politiker. Doch es waren die Kriege seines Bruders, die auch seinem Königreich die Basis entzogen.
Die Geigerin und der Deserteur: Ein Jugendbuch vom Rande der Völkerschlacht 1813
Vielleicht hätten sich die Leser vor 100 Jahren …
Augenzeugen aus der Leipziger Schlacht: An der Seite Napoleons
Noch verstecken sich die Bücher …
Ein Augenzeuge auf dem Schlachtfeld von Leipzig: Carl Bertuchs “Wanderung …” neu aufgelegt
Es ist wohl der wichtigste Klassiker …
Mit Vor-, Rand- und Nachgeschichte: Steffen Posers “Die Völkerschlacht bei Leipzig”
Nicht nur Wagner flutet in diesem Jahr …
Die Zeit- und Augenzeugen sahen durchaus, dass in Leipzig ein wichtiges Kapitel der Weltgeschichte geschrieben wurde. Was alles auf diesen Schlammfeldern entschieden wurde, wurde erst in den folgenden Jahrzehnten sichtbar. Und selbst da nicht für alle, die es erlebten. Gesellschaften versuchen zwar immer irgendwie, eine sinnvolle Erzählung ihrer eigenen Geschichte hinzubekommen. Doch das wird den Ereignissen selten wirklich gerecht. Denn es ist nicht nur so, dass die Sieger die Geschichte schreiben. Sie begreifen oft auch selbst nicht, was sie da gerade in Bewegung gesetzt haben.
Viele, teils doppelseitige Bilder, machen die Fülle der Stichworte auch anschaulich und lebendig. Für jeden, der sich in das große Thema Völkerschlacht einlesen will, bietet die handliche 300-Seiten-Broschur einen idealen Einstieg. Denn Steffen Poser belässt es nicht nur bei den Stichworten, er fügt zu vielen Artikeln auch die Originalquellen an. Und er diskutiert unter Stichworten wie “Abbildungen” auch die wirkliche Aussagekraft der Dokumente, die scheinbar authentisch über das Ereignis berichten.
Womit man dann auch den Aspekt der medialen Wahrnehmung hat – den der Menschen, die in den Tagen der Schlacht lebten, oder auch derer, die später mit der Flut der Denkmäler, Erinnerungen und Propagandaschinken konfrontiert waren. Auch das wird in Stichpunkten thematisiert.
Steffen Poser “Völkerschlacht in Stichworten”, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Leipzig 2013, ISBN 978-3-910034-16-7
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