Es ist ein kluger Kunstgriff von Dr. Sebastian Thieme, der im Januar von Leipzig nach Hamburg ans ZÖSS (Zentrum für Ökonomische und Soziologische Studien) wechselte, einen guten alten Begriff wieder mit Leben zu erfüllen: Misanthropie. Vielen bekannt aus Molières "Der Misanthrop" oder "Der Menschenfeind". Aber was hat der Misanthrop nun ausgerechnet in der Ökonomie zu tun? Oder gehört er da tatsächlich zum Inventar?
2012 gehörte Thieme zu den Unterstützern des Aufrufs “Für eine Erneuerung der Ökonomie”, in dem 97 Wissenschaftler eine Öffnung der fast hermetisch arbeitenden Wirtschaftswissenschaften forderten. Denn Wirtschaftswissenschaften in Deutschland haben ein Problem: Sie kennen praktisch keine Diskurse mehr, die über die verwendeten mathematischen Modelle hinausreichen. Was nicht schlimm wäre – wenn sie denn in ihrem Elfenbeinturm blieben. Aber keine andere Spezies von Wissenschaftlern drängt seit Jahren derart in die Politik und versucht durch Memoranden, Statements und Ratschläge Einfluss zu nehmen auf Entscheidungen.
Einige Vertreter der Spezie belassen es auch nicht dabei, sondern drängen mit ihrer Weltsicht auch noch in die Medien – beklemmendstes Beispiel: Thilo Sarrazin mit seinen Thesen und Büchern. Ein anderes Beispiel: der Makroökonom Bernd Lucke, der mit seiner Partei “Alternative für Deutschland” (AfD) auf Stimmenfang geht und am 22. September beinah den Einzug in den Bundestag geschafft hätte. Beide exemplarisch für eine fast homogene Landschaft der Wirtschaftswissenschaftler in Deutschland, die in ihrer Arbeit fast nur noch die reine Ökonomik präsentieren, in der es jenseits dessen, was man so allgemeinhin den “Markt” nennt, nichts mehr gibt.
Und Thieme weist gleich zu Beginn seiner Diskussionsschrift darauf hin, dass mit “Markt” nicht tatsächlich jene Märkte gemeint sind, auf denen Güter, Leistungen, Ideen, Potenziale gehandelt werden. Er betont es nicht extra, aber es ist der erste Schritt zu einem Weltbild, in dem nur noch das Spielfeld existiert, auf dem Menschen mit allen Kräften alles unternehmen, um den anderen niederzukonkurrieren. Deswegen reden zwar eine Menge Leute heutzutage von “Markt”, meinen aber nichts anderes als Wettbewerb – und zwar in der verschärften Form: Konkurrenz. Wenn sie sagen “Der Markt regelt das”, meinen sie den Wettbewerb. Und sie erwähnen selten, was das heißt. Denn ein Wettbewerb produziert immer Gewinner und Verlierer. Wenn es nur Gewinner gibt, ist es kein Wettbewerb. Was schon eine Schlussfolgerung mit sich bringt, die Thieme sehr wichtig findet. Denn wer vom Primat des “Marktes” redet, will auch Verlierer. Sie gehören dazu. Ohne diese Verlierer funktioniert sein Spiel nicht.
Aber da wird es ganz spannend: Warum kommen diese Verlierer in den üblichen ökonomischen Verlautbarungen nicht vor? Und wenn sie vorkommen – warum werden sie abgewertet, als faul, unwillig, leistungsverweigernd gebrandmarkt? Woher kommt das? Steckt das vielleicht in den ökonomischen Lehrsätzen?Ja, sagt Thieme. Und macht in diesem Buch mit dem Leser eine kleine Reise in die Ursprünge der Wirtschaftswissenschaften, auch wenn er lieber von Ökonomik spricht. Er fragt nach den Grundmustern, die bis heute angewendet werden. Und er holt die Urväter der bis heute geltenden Lehrmeinungen aus der Versenkung. Er geht dabei bis ins 17. Jahrhundert zurück und natürlich ins Ursprungsland des Kapitalismus, nach England. Und der Leser darf staunen, wie sehr die damals von puritanischen und strengen Denkern entwickelten Theorien den modernen Verlautbarungen ähneln. Es ist alles schon da. Damals aber noch mit der Vorrecht eines ersten Versuches, die neuen Entwicklungen theoretisch zu fassen. Also entwickelten die klassischen Theoretiker auch das Idealbild eines “Marktes”, ganz so, als wäre es erst einmal nur ein Experimentiermodell – mit lauter idealen Voraussetzungen: alle Mitspieler sind gleich, besitzen alle dieselben Informationen – und wer im Wettbewerb unterliegt, scheidet aus. Es gibt keine Einmischungen in diesen Markt und auch keinen doppelten Boden.
Natürlich merkten auch die alten Engländer, dass es da trotzdem Verlierer gab. Sie störten schon damals. Man sperrte sie in Arbeitshäuser, erließ Gesetze gegen Bettelei, wetterte gegen Verwahrlosung und die Kosten, die diese zunehmende Zahl der Armen verursachte. Der Gedanke, die Aussortierten als Ballast und Störfaktor für den als rein gedachten “Markt” zu sehen, entstand damals. Übrigens zu einer Zeit, als die verarmten Engländer zu Tausenden das Land verließen und hofften, im gelobten Land Amerika ein neues Glück zu finden. Aber die Ideen eines gnadenlosen Wettbewerbs nahmen sie mit in das “Land der unbegrenzten Möglichkeiten”, wo Tellerwäscher zum Millionär werden können …
Das Problem der idealtypisch gedachten Marktmodelle war immer: Sie ignorierten alles, was auf diesem Spielfeld keinen Platz fand. Aber Theoretiker sind auch immer Weltverbesserer. Sie haben schon damals versucht, ihre Idee von einem reinen Markt als Idealmuster für die Gesellschaft zu verkaufen. Für die “Gewinner” auf diesem Markt funktionierte das immer: Sie verdrängten nicht nur die leidige Konkurrenz vom Markt, sie heimsten auch die Gewinne ein.
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Ist deshalb aber die ökonomische Theorie menschenfeindlich? – Nicht unbedingt. Das zeigte schon der englische Philosoph John Locke, der neben der reinen Ökonomie auch eine Wirtschaftsethik vertrat und das Bild einer Gesellschaft, in der Toleranz, Freiheit und Gleichheit Regulativ und Normativ waren. Für diesen Philosophen der Aufklärung wäre es undenkbar gewesen, die platten Modelle einer “Markt”-Theorie als Gesellschaftsmodell zu begreifen oder gar dem “Markt” irgendein Primat in der Gesellschaft einzuräumen. Denn ihm war klar, dass es in die Sackgasse führt, wenn nur noch die Konkurrenz Jeder gegen Jeden regiert. Da bleibt auch die Frage auf der Strecke: Wofür das alles? Ist der Mensch denn dazu da, nur noch Futter für eine immer wildere Konkurrenz zu sein? Und was ist mit all denen, die nicht mitspielen wollen? – Da ist man bei der Frage der menschlichen (Wahl-)Freiheit.
Aber nicht Locke dominierte in der folgenden Entwicklung der Ökonomik, sondern die Theorien von Leuten wie Joseph Townsend und Robert Malthus. Beide vertraten explizit das Modell eines in sich geschlossenen Marktes. Von Townsend am berühmten Ziegenbeispiel durchexerziert: Ein paar Ziegen kommen auf eine Insel, vermehren sich und erreichen irgendwann die Maximalpopulation, die die Insel ernähren kann. Dann kommen noch ein paar Hunde, fressen die Ziegen – vor allem die langsamen und alten. Es überleben nur die schnellsten Ziegen, die den Hunden entkommen können. Es überleben auch nur die schnellsten Hunde. Es entsteht ein neues Gleichgewicht aus Jägern und Gejagten. Und eine radikale Auslese.
Ein vulgärbiologisches Ideal, zu dem moderne Biologen wohl so einiges zu sagen hätten. Aber es war der Punkt, an dem das in die Wirtschaftslehre eintrat, was man heute so landläufig “Sozialdarwinismus” nennt. Nur dass Darwin mit seinem “survival of the fittest” damit rein gar nichts zu tun hat. Joseph Townsend lebte von 1739 bis 1816. Seine Ziegenparabel schrieb er schon 1786 in der “Dissertation on the Poor Laws” nieder. Seitdem gehört die Selektion zu den Grundfesten der Ökonomik. Und damit auch die Verachtung für alle, die nicht stark, leistungsfähig und rücksichtslos genug sind, um den “Kampf ums Überleben” zu gewinnen.Sebastian Thieme weist mehrfach darauf hin: Tatsächlich funktionieren würden die üblichen “Markt”-Modelle nur, wenn die im Wettbewerb Unterlegenen tatsächlich abtreten vom Spielfeld – also sterben. Dieser “Markt” kennt keine Gnade und keine Almosen. Er kennt übrigens auch keinen Staat. Worauf Thieme nicht extra eingeht. Was aber wichtig ist. Denn dieser reine “Markt” hat seine Regeln. Sie gelten gnadenlos. Innerhalb dieses Marktes gibt es niemanden, der andere Regeln einführen könnte. Die Stärksten und Rücksichtslosesten bestimmen, wer Erfolg hat.
Und der Staat? – Die Wirklichkeit war auch im England des 17. und 18. Jahrhunderts eine andere. Auch damals galten klare Marktregeln. Die nicht von den “Markt”-Teilnehmern gemacht wurden, sondern von staatlichen und gesellschaftlichen Instanzen. Übrigens eines der Grundideale auch der englischen Aufklärung: Eine zum Diskurs fähige Gesellschaft vereinbart die Regeln, nach denen alle die besten Chancen haben, zu leben und ihre Ziele zu erreichen.
Die Instanz, die den “Märkten” Regeln gibt, war immer außerhalb dieses Marktes. Was – aus Sicht der reinen Lehre – ein Unding ist: Deshalb wird “der Staat” von allen Denkern der reinen marktliberalen Lehre verteufelt. Mit allem, was er tut – ob es das Erheben von Steuern ist, das Erlassen von regelnden Gesetzen oder – das Allerschlimmste – das Durchfüttern der Armen, Schwachen, im Wettbewerb Unterlegenen. Stichwort: Sozialstaat. Das hat Folgen, denn die Verfechter dieser reinen Marktlehre wollen natürlich, dass alles “Markt” wird. Das Ergebnis können die Europäer seit ungefähr 40 Jahren in all seinen Exzessen sehen: Mit der Idee, dass alles “Markt”, also Wettbewerb sein müsse, wird auch der Staat, wird das ganze gesellschaftliche Leben “dem Markt untergeordnet”. Die Exzesse sieht man bis hinein in den Kampf der Hochschulen in irrsinnigen “Exzellenzinitiativen” oder der fast sturen Verteidigung eines Schulwesens, das von Vornherein auf das Aussortieren der “Schwachen und Unfähigen” angelegt ist. Und logischerweise auch auf eine Auswahl der Besten und Fittesten: dem, was sich seit einiger Zeit auch in Deutschland nicht ganz zufällig eigensinnig wieder “Elite” nennt.
Dass Hochschulen und Schulen auch gleichzeitig Prinzipien der reinen Ökonomik unterworfen werden, muss gar nicht extra erwähnt werden. Nur – und das merkt Thieme mehrfach an: Warum sind die Verfechter dieser reinen Ökonomik nie bereit, wirklich konsequent zu sein? Und dann einfach die “Verlierer” ihres überall hineingequetschten Wettbewerbs auch vom Spielfeld verschwinden zu lassen? Warum macht man “Verlierer”-Unis nicht einfach dicht? Macht Städte, die im Wettbewerb mit München und Frankfurt unterliegen, nicht einfach platt? Radiert Länder, die – wie Griechenland – wirtschaftlich straucheln, nicht einfach von der Landkarte?
Der Ökonom als Menschenfeind?
Sebastian Thieme, Verlag Barbara Budrich 2013, 12,90 Euro
Die schlichte Wahrheit ist: Es wäre Unfug. Selbst “Märkte” brauchen die “Verlierer”, die Armen, Bedürftigen und Hoffnungsvollen. Die Wahrheit ist nämlich auch: Das sind die eigentlichen Märkte. Ohne Anführungszeichen. Denn ein Grundfehler der schönen Modelle ist auch: Sie nehmen in ihrer elitären Weltsicht einfach an, dass der “Erfolg”, das Besiegen der Schwächeren das Ziel der ganzen Sache sei. Und dass “Märkte” nur deshalb funktionieren, weil alle Mitspieler wie besessen bestrebt sind, besser und erfolgreicher als die anderen zu sein. Das bringt die Leute dazu, sich um Arbeitsplätze zu prügeln und die Arbeitenden, ihre volle Leistung abzuliefern …
Was schon erfahrungsgemäß nicht stimmt.
Denn tief in den “Siegern” steckt das Misstrauen. Aus gutem Grund. Denn wer in diesem blanken Konkurrieren miteinander am Ende die Nase vorn hat, der weiß auch, wie er da hin gekommen ist. Mit Respekt, Vertrauen, Nächstenliebe jedenfalls nicht.
Und was folgt aus diesem Misstrauen der “Sieger”?
Gleich mehr dazu an dieser Stelle.
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