Es gibt keinen Leipziger, dessen Leben je so gründlich untersucht wurde wie das von Johann Sebastian Bach - nicht Wagner, nicht Mendelssohn, nicht Goerdeler. Akribisch arbeiten Forscher nicht nur am Bach-Archiv am Leben des Leipziger Thomaskantors, wälzen Kirchenbücher, Rechnungen und alte Noten. Eine Detektivarbeit, die nicht nur JSB und sein Leben erfasst, sondern auch seine Zeit und seine Welt.
Denn während Jahrzehnte lang allein das Werk des berühmten Thomaskantors und sein Wirken in Leipzig im Mittelpunkt standen, widmen sich immer mehr Forscher seinen Verbindungen und Beziehungen in andere Regionen der Welt. Es ist ein Paradigmenwechsel – weg vom einsamen Genie und dem noch lange nachwirkenden Geniekult des 19. Jahrhunderts, hin zur Erfassung der Welt all jener Menschen, die mit und neben Bach Musik schufen, um ihre Anstellungen rangen, gefeuert oder gefeiert wurden. Ansbach ist dabei kein ganz zufälliger Ausflug, obwohl Johann Sebastian wohl selbst nie in dieser brandenburgischen Markgrafschaft war, wo Fürsten mit Namen wie Wilhelm Friedrich, Carl Wilhelm Friedrich oder Christian Friedrich Carl Alexander regierten. Mit durchaus schmalerem Geldbeutel als ihre Vettern in Potsdam, aber mit dem selben Standesverständnis.
Man leistete sich – je nach Musikverständnis – auch mal eine Hofkapelle samt Hofkapellmeister und ein, zwei oder mehr begabten Sängern. Und feuerte sie auch gern mal wieder, wenn man ihrer überdrüssig war oder das Geld in der Kasse knapp wurde. Übrigens etwas, was Johann Sebastian Bach auch in seiner Zeit in Weimar erlebte, wo er von 1708 bis 1717 versuchte, sich zu arrangieren. Was dann aber 1717 mit einer einmonatigen Inhaftierung endete – wegen Halsstarrigkeit.
Man vergisst so gern, dass das frühe 18. Jahrhundert eine Zeit des Übergangs war. Noch waren die Fürsten die wichtigsten Mäzene der Kultur. Sie unterhielten die Orchester, Kapellen und Theater. In den aufstrebenden Bürgerstädten wurde das alles noch ausprobiert. Und begnadete Musiker und Komponisten standen ernstlich vor der Wahl, sich einem vielleicht allergnädigsten Fürsten anzudienen und darauf zu hoffen, er bliebe ihnen gnädig bis zum Lebensende (worauf Bach ja mit seinem Umzug 1717 nach Köthen rechnete), oder es mit einer zuweilen noch viel halsstarrigeren städtischen Obrigkeit zu tun zu bekommen, wenn man sich etwa als Kantor bewarb. Trotzdem waren die Kantorenstellen an den wichtigsten Kirchen des Landes begehrt.
Und trotz aller Fehden mit griesgrämigen Bürgermeistern und strengen Vorgesetzten hielt es auch Bach dann lieber in Leipzig aus bis zum Schluss. Was nicht bedeutet, dass er hier keine Unterstützer fand. Der kurzzeitige Rektor der Thomasschule Johann Mathias Gesner gehört dazu, der vor seiner Anstellung in Leipzig auch schon in Ansbach ein Rektorat inne hatte und vorher in Weimar, wo er Bach wohl das erste Mal über den Weg lief. Es sind nicht die einzigen Lebenswege, die sich in diesem Buch kreuzen.
Da staunt auch der Autor Hans-Joachim Schulze, der ja immerhin Leiter des Bach-Archivs war und sich in der Materie auskennt. Eigentlich wollte er einer Spur aus Bachs Werk nachspüren, einer Huldigungskantate in schlechtem Italienisch, in der die Stadt Ansbach erwähnt wird. Was bei Bach selten ist. Die Partitur zur Kantate ist verschollen, der Text ist noch da. Und im Kapitel “Musikrätsel II” präsentiert Schulze denn auch einen mutmaßlichen Verdächtigen, dem dieser Huldigungsgesang gegolten haben könnte.
Gesner ist es nicht. Der konnte 1734 der Verlockung nicht widerstehen, eine Professur in Göttingen zu übernehmen. Aber wenn einer wie Schulze erst mal sucht, dann findet er erstaunlich viele Spuren, die nach Ansbach führen – und die in ihrer Dichte auch wieder zeigen, wie vielfältig Bach in das musikalische Leben seiner Zeit eingebunden war. Dabei war er selbst auch so etwas wie ein Knotenpunkt. Schon in Weimar wirkte er als Vorbild und Lehrer. Etliche der Notenspuren aus Ansbach führen nach Weimar – und nicht nur zu Johann Sebastian, sondern auch zu seinen talentierten Verwandten.
In Weimar bekam es Bach auch mit dem talentierten Geiger Johann Georg Pisendel zu tun, dessen Weg dann nach Ansbach führte.
Andere Spuren führen direkt in den Thomanerchor. Selbst die legendäre “Präfektenaffäre” hat mit Ansbach zu tun, denn wenn der aus Ansbach stammende “Unglücksrabe” Maximilian Nagel sein Amt als 1. Präfekt nicht hätte aufgeben müssen, weil seine Gesundheit nicht mehr mitspielte, wäre es zwischen Bach und Ernesti nicht zu diesem Kräftemessen gekommen, bei dem am Ende mehr Schaden angerichtet war als Nutzen.
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Und auch ein vielseitig Begabter wie Lorenz Christoph Mizler, der in Leipzig studierte, konnte sich auf seine Beziehungen zum hochbegabten Bach berufen. Neben seinen vielen (oft erfolglosen) Versuchen, sein Talent auch in Erfolge umzumünzen, gehört auf jeden Fall die von ihm gegründete “Musikalische Bibliothek” zu den Dingen, die ihn nicht ganz unvergessen machen. Aber auch das ein Projekt, mit dem sich der Weltverbesserer, wie ihn Schulze nennt, völlig übernahm.
Bevor er sich überhaupt in die Beschreibung der Persönlichkeiten stürzt, die Bach mit Ansbach verbinden, macht Schulze auch noch eine weit ausgreifende “Tour d’Horizon” durch den süddeutschen Raum und macht damit schon deutlich, wie viele Beziehungen es vom Leipziger Thomaskantor auch in jene Regionen gab, die man für gewöhnlich nicht mit seiner Person verbindet. Aber seine Schüler wanderten genauso wie seine Musikerkollegen, denen er im Laufe seines Lebens begegnete. Von den Noten und Notenabschriften ganz zu schweigen. Schulz skizziert so ganz beiläufig ein ganzes Netz und Netzwerk der Musik im frühen 18. Jahrhunderts – samt Arbeitsbedingungen und der allgegenwärtigen Unsicherheit.
Insgesamt acht Personen, die mit Ansbach und Bach zu tun hatten, porträtiert Schulze in diesem Buch, da und dort so skizzenhaft, wie es das lückenhaft überlieferte biografische Material ermöglicht. Aber selbst diese acht Porträts (und zwei musikalischen Rätsel) zeigen, wie präsent der Leipziger Thomaskantor selbst im fernen Ansbach war. Und ist. Denn den Rahmen des Ganzen bilden die 1947 aus der Taufe gehobenen Ansbacher Bachwochen, die es bis heute gibt und die gegenüber Leipzig einen kleinen Vorteil haben: Sie brauchen sich um Archiv und Bachpflege nicht extra zu kümmern. Sie können Bach jedes Jahr feiern, wie es den Veranstaltern gefällt. Und beim Publikum kommt es an. Bachs Musik funktioniert auch ohne Leipzig. Seine Sprache ist an keinen Ort und keine Zeit gebunden.
Bach in Ansbach
Hans-Joachim Schulze, Evangelische Verlagsanstalt 2013, 14,80 Euro
Das ist dann der Subtext zur Ansbach-Geschichte. Die im Kleinen tatsächlich die Rezeptionsgeschichte der Bach-Musik zeigt. Und auch wieder die Legende in Frage stellt, dass Bachs Kompositionen erst 1829 durch Mendelssohn Bartholdy “wiederentdeckt” werden mussten. Es gibt Anekdoten, die sind eben wirklich zu schön um wahr zu sein.
Hans-Joachim Schulze “Bach in Ansbach”, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2013, 14,80 Euro
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