Die große Ausstellung "Helden nach Maß" im Stadtgeschichtlichen Museum ist ein faszinierender Versuch, in der deutschen Geschichte endlich einmal aufzuräumen. Denn wenn man ehrlich ist, kann man nur sagen: Was da 200 Jahre lang als Geschichtserzählung im Dienste verschiedener Herren dargeboten wurde, ist eher ein Gerümpelhaufen der falschen Legenden als eine wirklich belastbare Erzählung. Ein Gerümpelberg der falschen Heldenbilder.
Zur Eröffnung der Ausstellung “Helden nach Maß” am 4. September war auch der deutsch-französische Publizist, Soziologe und Politologe Alfred Grosser eingeladen, der für den opulenten, 250 Seiten dicken und reich bebilderten Katalog einen Essay zur Verfügung gestellt hat, der eigentlich ein Plädoyer ist: “Für und gegen die Freiheit”. In der Schlacht bei Leipzig zwischen dem 14. und 19. Oktober 1813 stand auch das erste Wort der Parole der französischen Revolution zur Disposition: Liberté. Und der große Erbe der Revolution und ihrer Ideale, die bis heute Maßstab für jeden demokratischen Staat sein sollten, stand auch für dieses Liberté auf dem Schlachtfeld. Auch wenn er sie in seinem Anspruch, ganz Europa seinem Machtbereich unterzuordnen, in den Jahren davor immer wieder mit Stiefeln getreten hatte.
Was im Oktober 1813 den merkwürdigen Effekt hatte, dass gerade jene Herrscher, denen die Freiheit ihrer Völker im Prinzip egal war – weil jenseits ihres ganzen Staats- und Rechtsempfindens -, die “Freiheit” als Fahne vor sich her tragen und die Kämpfe gegen Napoleon als “Befreiungskriege” verkaufen konnten. Einigen der Akteure auf dem und jenseits vom Schlachtfeld von Leipzig ist der glühende Wunsch, den beteiligten Völkern tatsächlich die Perspektive eines freieren Lebens zu verschaffen, nicht abzusprechen. Diese Reformer stehen darum bis heute als Präsentanten dieses kurzen historischen Moments auch in den deutschen Schulbüchern.
Aber gewonnen haben andere. Und schon im Jahr 1813 steckt das ganze Problem der deutschen Freiheitsverklärung, die sich auch damals schon mit einem engstirnigen Nationalismus paarte und direkt zu den katastrophalen Kriegen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts führte. Und zu dem, was ihre schlimmsten Vertreter dann “Erbfeindschaft” nannten. Und Grosser hat durchaus Recht, wenn er diese ganze Linie von Gewalt und Gegengewalt unter dem Aspekt der Freiheit hinterfragt. Nicht nur für die deutsche Seite, auch für die französische. Denn den Anspruch der französischen Revolution, die Freiheit der Völker zu achten, trat auch Napoleon spätestens seit 1808 in Spanien mit Füßen. Und das war nur der Beginn vieler Sündenfälle, die ihre Folgen bis in die Gegenwart zeigen. Für Grosser ist es keine Überraschung, dass viele Diktatoren in den einst von westeuropäischen Nationen kolonialisierten Staaten der “dritten Welt” ihre Ausbildung just an den Hochschulen dieser stolzen Demokratien absolviert haben.
Er hätte auch noch weiter gehen können – und in der Ausstellung ist ja das gerasterte Foto des Whistleblowers Edward Snowden zu sehen: Wie ernst es Staaten und Regierungen mit den Prinzipien “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” meinen, zeigt sich auch heute im Umgang mit den Grundrechten. Da hilft auch keine Selbstgerechtigkeit: Wenn Regierungen glauben, die Rechte und Freiheiten ihrer Bürger mit der fadenscheinigen Begründung einer latenten “Terrorismusgefahr” beschneiden zu können, haben sie den Weg der Demokratie schon verlassen. Dann opfern sie die wichtigsten Stärken der Demokratie wieder einmal auf dem Schlachtblock der Staatsraison.
Es ist erstaunlich: Aber das steckt alles schon in dieser Leipziger Schlacht und ihrer Aneignung durch die späteren Nationen deutscher Couleur. Es ist kein Zufall, dass die Ausstellungsmacher ausgerechnet das Heldenbild in den Mittelpunkt gestellt haben – oder besser: die Vielzahl der Heldenbilder, die aus dieser Schlacht und den “Befreiungskriegen” hervorgingen. Von den “Glorreichen Hasardeuren” Lützow, Schill, Körner über die “Generäle mit Rückgrat” Scharnhorst, Gneisenau, Blücher bis zu den erkorenen Helden – explizit den Buchhändler Palm und die preußische “Königin der Herzen” Luise. Nicht zu vergessen die bis heute so gern gelobte Opferfreudigkeit des Volkes. Und genauso wenig die “Geistigen Brandstifter” – in diesem Fall die Herren Arndt und Jahn.
Den Ausstellungsmachern ist es gelungen, die ganze Bandbreite der Wirkungen dieses Gemetzels von Leipzigs sichtbar zu machen, zu zeigen, wie in diesem Jahr 1813 und den “Befreiungskriegen” fast die ganze mentale Nation steckt, die Deutschland bis heute ausmacht. Bis hin zur mentalen Engstirnigkeit der kleinen und mittleren Fürsten, die schon auf dem Schlachtfeld besorgt sind, dass sie hinterher ein möglichst großes Stück vom Kuchen bekommen. Das Ergebnis war ja fatal genug: eine Restaurierung der alten Mittelmächte, die Karlsbader Beschlüsse mit verschärfter Zensur und “Demagogenverfolgung”. Und eine Zeit, die schon die Zeitgenossen als “Biedermeier” verklärten, eine der vielen Phasen der staatlich verordneten Geistesruhe in Deutschland. Wer aufmüpfig wurde, musste mit Sanktionen rechnen und ging lieber ins Ausland – wie Börne und Heine.
Es war auch die Blaupause für 1848/1849, die erste von den Deutschen vergeigte Revolution. Im Grunde ein exzellentes Studienmaterial für Historiker, die sich mit der Mentalitätsgeschichte von Völkern und Nationen beschäftigen: In welche Denkmuster und Verhaltensweisen verfallen eigentlich Bevölkerungen, wenn sie staatlich entmündigt werden? Wie wenig oder wie viel amtlich geschürte Angst gehört dazu, eine Nation in Schockstarre zu versetzen und den Mut des braven Bürgers zu biegen und zu brechen? Braucht es dazu wirklich eine Diktatur? Oder reichen schon gut aufmunitionierte Geheimdienste und ein demoliertes Bildungssystem?Die Ausstellung und der Katalog zeigen natürlich auch die einfachen, die staatlich gestützten Linien der Entwicklungen nach 1813. Linien, die scheinbar gerade und simpel sind – hin zur kleindeutschen Lösung von 1866 – 1870, zu den Kriegen von 1914 – 1918 und 1939 – 1945. Aber auch zum Auseinanderklaffen der Ideale in der Weimarer Republik, als nationalistische Engstirnigkeit den ersten Versuch einer deutschen Demokratie den Kriegstreibern zum Fraß vorwarf.
Auch die deutschen Intellektuellen werden erwähnt, die durchaus die Hoffnung in den Idealen der französischen Revolution sahen – von Goethe bis Heine. Ideale, um die die Franzosen genauso immer wieder kämpfen mussten – mit bitteren Rückschlägen, wie auch Grosser betont in Bezug auf die Pétain-Regierung.
Aber anders als 1913 kann im Jahr 2013 zumindest die ganze Zwiegesichtigkeit der Schlacht bei Leipzig beschrieben werden – mitsamt ihren oft verwirrenden Folgen, die bis in die Gegenwart deutsche Geschichte so seltsam changieren ließen zwischen Diktatur und Biedermeier, nationaler Arroganz und politischer Untertänigkeit, zwischen Heldenmythos und Demagogenangst, Besserwisserei und Kleinstaaterei.
Die meisten Entwicklungslinien der deutschen Geschichte der letzten 200 Jahre führen alle zu dieser Schlacht bei Leipzig, ihren Akteuren auf der Bühne und hinter den Kulissen. Und zu dieser Zwielichtigkeit der Geschichte gehört eben auch die Janushaftigkeit ihres damaligen Hauptdarstellers: Napoleon, in dem der “Erbe der Revolution” sich mit dem Ur-Typus des modernen Diktators vereint. Was so in Ausstellung und Katalog nicht sichtbar wird, weil es nicht Thema ist.
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Nur beiläufig in der Kabinettausstellung mit den Napoleon-Karikaturen der Zeit, in denen Napoleon in der Regel als des Teufels erscheint. Was auch wieder ein Licht wirft auf damalige Propaganda (denn die Karikaturen mussten in der Regel immer erst eine Zensur passieren) und auf die Unfähigkeit der Zeitgenossen, in diesem Mann auch schon die “dunklen Mächte” des kommenden Zeitalters zu sehen.
Die Karikaturen sind in diesem Band natürlich auch zu finden – samt dem 70 Seiten starken Essay-Teil, in dem auch Grossers echt französischer Essay über die Freiheit zu finden ist. Aber auch der etwas oberflächliche Versuch des Leipziger Kulturwissenschaftlers Harald Homann, die Rezeption der “Befreiungskriege” in der DDR und der alten Bundesrepublik aufzuarbeiten. Auch das gehört dazu: der teilweise selbst wieder nur eindimensionale Blick auf die neuere deutsche Geschichte. Ganz in alter Tradition. Nicht nur Regierungen machen sich die Geschichte gern zurecht, wie sie ihnen gefällt, auch Historiker.
Was dann dazu führt, dass man amtliche Geschichtsbücher in der Regel nach spätestens 20 Jahren wegschmeißen kann, weil man das Gewäsch nicht mehr lesen kann. Diesen Katalog aber dürfte man länger aufheben – er gibt mehr Anregungen als Behauptungen und lässt auch viele anstößige Vorgaben offen. Zum Selbst- und Weiterdenken. Denn ziemlich deutlich zeigt dieses Projekt des Stadtgeschichtlichen Museums, wie nah uns dieser Oktober 1813 noch ist und wie sehr deutsche Geschichte bis heute von Ikonen, Emotionen und Legenden bestimmt und getrieben ist.
“Helden nach Maß. 200 Jahre Völkerschlacht”, Katalog zur Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, Leipzig 2013, ISBN 978-3-910034-18-1
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