Von einer Handvoll Frauen ist bekannt, dass sie sich in Zeiten der Napoleonischen Kriege als Männer verkleideten und in Uniform an den diversen Feldzügen und Scharmützeln teilnahmen. Die wohl bekannteste ist Eleonore Prochaska, die sich bei den Lützowschen Jägern anwerben ließ und im September 1813 beim Gefecht in der Göhrde verletzt wurde. Am 5. Oktober 1813 erlag sie ihren Wunden. Die Völkerschlacht hat sie nicht miterlebt. Genausowenig wie Ludwig van Beethoven.
Begegnet sind sich die beiden auch nicht. Aber zuweilen entstehen Geschichten einfach, weil eine Autorin wie Gudrun Elise Partnitzke sich über 30 Jahre lang als Musikautorin intensiv mit Musik beschäftigt hat. Und Beethoven scheint ihr dabei besonders am Herzen zu liegen. Denn eigentlich ist es eine Beethoven-Geschichte, die sie hier vorlegt. Sie stellt den gealterten, tauben Beethoven in den Mittelpunkt, zehn Jahre nach der Schlacht bei Leipzig bzw. 13 Jahre danach. Auf seinen durch die Taubheit bedingten einsamen Spaziergängen um Baden bei Wien begegnet er jener in Schwarz gekleideten Jünglingsgestalt, die sich ihm als August Renz vorstellt und am Ende als jene Elise Prochaska entpuppt, die 1813 als Lützowsche Freiwillige im Feld blieb.
Im Grunde meldet sie sich als Mahnerin bei ihm. Denn 1815 hatte sich Beethoven eigentlich vorgenommen, das Drama “Leonore Prohaska” des preußischen Kabinettssekretär Johann Friedrich Leopold Duncker, den er beim Wiener Kongress kennengelernt hatte, zu vertonen. Vier Lieder hat er vertont. Das Drama selbst ist verschollen. Wahrscheinlich vollendete Beethoven die Komposition auch nie, weil der Rausch der Jahre 1813 bis 1815, der gern mit dem Begriff “Befreiungskriege” besetzt wird, bald verflog. Sehr schnell stellte sich heraus, dass die siegreichen Fürsten gar nicht daran dachten, ihre Versprechungen an die zum Aufstand aufgerufenen Völker umzusetzen. Statt eines einigen Deutschlands und demokratischen Verfassungen bekamen die Deutschen ihre alten Fürsten wieder und mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 eine neue Polizei- und Zensurordnung, die jeden aufrührerischen Geist für fast 30 Jahre unterdrückte.
In Wien schon hatten die Fürsten eifrig gefeilscht und geschachert, hatten sich die größeren Mächte ein paar Stücke aus der napoleonischen Erbmasse zugeschanzt, andere hatten ihre Einflussspähren drastisch erweitert und hinter den Kulissen wurde eifrig mit Geschenken und Zugeständnissen gepokert. Wer heute noch immer glaubt, die Wurzeln des 21. Jahrhunderts lägen irgendwo in den Jahren 1914, 1917 oder 1933, der irrt. Sie liegen im Jahr 1815. Und das Beklemmende dabei ist: An der damals zelebrierten Kabinettspolitik hat sich bis heute nicht wirklich viel geändert, auch wenn die Großmächte gewechselt haben und die Minister ihre Könige nicht mehr fragen müssen. Aber die Politik der Kabinette ist im Jahr 2013 genauso wenig eine der Völker, wie sie es 1813 war.
Und Parnitzkes Beethoven wusste es aus eigener Erfahrung. 1796 hatte er sich in Wien noch selbst als Freiwilliger gemeldet, als selbst das feudale Österreich keinen anderen Weg mehr sah, dem französischen General Bonaparte in Oberitalien Paroli zu bieten. Beethoven hatte Glück, er war dann nicht dabei, als die österreichischen Freiwilligen in Italien verheizt wurden. Aber Beethoven ging es ganz ähnlich wie dem Weimarer Hofrat Goethe: Er sah in dem französischen Konsul Bonaparte den Typus eine neuen Herrschers, der durchaus fähig war, das alte, in seinem feudalen Muff gefangene Europa, umzustürzen.
1803 schrieb er für Napoleon eine seiner großen Sinfonien – die 3. Sinfonie, meist “Eroica” benannt. Doch als sich Napoleon 1804 zum Kaiser krönte, radierte Beethoven wütend die Widmung an diesen neuen Selbstherrscher aus. Künftig suchte er die Hoffnung auf der anderen Seite der Schlachtfelder und komponierte ebenso grandiose Werke, die nun auch hier ihre Helden suchten – Wellingtons Sieg von 1813 etwa. Im selben Jahr entstand die 7. Sinfonie, in der Beethoven seinen Eindruck der “Befreiungskriege” umsetzte und eine grandiosen Erfolg einheimste.
Der Trauermarsch für Eleonore Prochaska knüpft da scheinbar an – würdigt aber mit Eleonore Prochaska eben keine Person aus der Befehlsebene, sondern eine Freiwillige aus jenem Korps, das Napoleon denn auch gleich mal zu einer Bande von Banditen erklärte und besonders erbarmungslos jagen ließ. Die Sonate Nr. 12, Opus 26 ist ein Trauermarsch, betitelt als “Trauermarsch zum Tod einer Heldin”.
Dass Parnitzke ihre Geschichte einer fantastischen Begegnung ins Jahr 1823 verlegt, bringt ihren Beethoven schon in die Zeit seiner 9. Sinfonie, mit der er endgültig Abschied genommen hat von seinem Glauben, die Zukunft der Welt könnte in egoistischen Nationen und ihren jeweiligen Potentaten liegen. Nicht ohne Grund wurde die Neunte auch zur “Europa-Sinfonie”. Und dieser gealterte Beethoven, den Gudrun Parnitzke in ihrer Novelle agieren lässt, ist einer, der keine Illusionen mehr hegt über das Gebaren der Mächtigen und ihre Spiele mit dem Krieg als Mittel zur Fortsetzung ihrer kleinkarierten Politik.
“Für ihre Throne und ihre Ländereien sind Tausende zu Krüppel geworden und haben sich totschießen lassen und glaubten es ginge um ihre Freiheit”, lässt die Autorin ihren Beethoven denken (Seite 47). Später wird er noch deutlicher in seinen Worten über die Lumpen auf den Thronen mit ihren falschen Versprechungen.
Auch wenn Eleonore Prochaska mit den Lützowern wohl nie in Leipzig war – auch nicht bei der Befreiung der gefangen genommenen Lützower aus der Thomaskirche – lässt Parnitzke Leipzig trotzdem nicht aus. Denn diese Schlacht gehört tatsächlich hierher. Bei Leipzig triumphierten die alliierten Fürsten mit geballter Heeresmacht über Napoleon. Den Blutzoll zahlten auch hier die “kleinen Leute”. Und viele von ihnen waren mit Begeisterung zu den Armeen geströmt, weil ihnen die Potentaten – allen voran der preußische König – in vollmundigen Proklamationen Zusagen auf eine Verfassung gemacht hatten und den Krieg gegen Napoleon zum “Befreiungskrieg” stilisiert hatten.
Diese Gemengelage macht die Völkerschlacht bis heute so schwer zu greifen. Parnitzke lässt ihren Beethoven das dann so kommentieren: “Als die Schlacht von Leipzig vorüber war und die Begeisterung groß, so überschwänglich, so besoffen, da habe ich ‘auf den siegreichen Oktober ein Nationallied schreiben und dieses alle Jahre aufführen’ wollen. Für die Deutschen. Aber da wird nichts draus! Keine Jubelchöre zu Gedenken an den Krieg. Es darf keinen Jubel mehr geben über einen Krieg, auf der ganzen Welt nicht, der zu Überheblichkeit und neuen Kriegen anstiftet.”
Und weil man die Schlacht bei Leipzig partout nicht Befreiungsschlacht nennen konnte, bekam sie irgendwann den genauso irre führenden Namen Völkerschlacht. Es war aber keine Schlacht der Völker. Es war eine Schlacht der Fürsten und Feldherren. Die Völker gingen allesamt leer aus. Beethoven hat es begriffen.
Und so ist es eben auch ein bisschen mehr als nur eine fantastische Erzählung. Es ist auch eine ins Fantastische verfremdete Geschichte über unsere Welt, in der die Kabinette noch immer so regieren, wie es die Kabinette zu Metternichs Zeiten taten.
Gudrun Elise Parnitzke “Ein Traum von Prochaska”, Dahlem Buch, Dahlem 2013, 12 Euro.
Mehr zur Eleonore Prochaska:
www.eleonoreprochaska.de/sound
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