Mit dem großen "Bilderbogen" ging es los 2010, dem "Monumentalwerk zur Geschichte der Leipziger Ansichtskarten", das Pro Leipzig herausgebracht hat. 400 Seiten Postkarten-Geschichte Leipzigs. Die Idee, daraus noch mehr zu machen, lag nahe. Und wurde dann auch in schönen großen Bildbänden umgesetzt: Großzschocher-Windorf, Kleinzschocher, Möckern & Wahren, Connewitz. Jetzt gibt es den nächsten Ortsteil in alten Ansichten: die Südvorstadt.
600 Bildmotive sind bekannt, 330 wurden von Oswald Müller und Thomas Nabert für diesen Band ausgewählt, der den Ortsteil in einer Weise zeigt, so wie ihn Viele gar nicht kennen. Auch weil die Stadtverwaltung ihn gern amtlich teilt in Zentrum-Süd und Südvorstadt. Obwohl das eine natürlich die Geburtszelle des Ganzen ist. Stichwort: Petersvorstadt.
Es war eine der Vorstädte, die schon im Mittelalter vor den Toren Leipzigs entstand, in Kriegszeiten freilich auch immer Kandidat zum Abriss, damit man von den Stadtmauern freies Sicht- und Schussfeld hatte. Erst im 18. Jahrhundert gewann die Petersvorstadt auch stadtgestalterisch Kontur. Aus dem Glacis vor dem Peterstor wurde 1749 der erste gestaltete Platz der Stadt – die Esplanade, die 1780 ihren ersten künstlerischen Blickpunkt bekam: das von Adam Friedrich Oeser geschaffene Marmordenkmal Friedrich August III. – Was dem Platz später den Namen Königsplatz verschaffte. Heute heißt er Wilhelm-Leuschner-Platz und ist als prägender Platz nicht mehr zu erkennen.
Die Bombardements der Jahre 1943 und 1944 radierten den alten Kern der Petersvorstadt mit Markthalle, Panorama, Kronprinzen- und Windmühlenstraße fast komplett aus. Doch in den Ansichtskarten des frühen 20. Jahrhunderts ist das alles noch zu sehen, manchmal künstlerisch aufgemotzt, manchmal mit witzigen Sprüchen und Reimen. Und seit den 1890er Jahren auch in fotografischer Wiedergabe. Und gerade das macht die alten Postkarten, die seinerzeit von Leipziger Verlagen in gewaltigen Stückzahlen produziert wurden, heute zu einem historischen Fundus. Hier hat sich manches Gebäude, manche Platz- und Straßenansicht erhalten, wie es sie in anderen Foto-Archiven nicht gibt.Denn seinerzeit war die Postkarte das Kommunikationsmittel Nummer eins. 1866 war es General-Postdirektor Heinrich von Stephan, der diese Nutzung der Postkarte in einer Denkschrift wieder einmal anmahnte. Umgesetzt wurde seine Idee ab 1870 im Norddeutschen Bund, wie das Konstrukt damals noch hieß. Platz, dem Adressaten etwas mitzuteilen, gab es bei diesem Medium anfangs eigentlich nicht. Der Text musste irgendwo auf und neben das Bildmotiv gequetscht werden, die Rückseite war nur für Adresse und Briefmarke vorgesehen.
Aber es war wohl ein wenig wie heute bei Twitter: Wenn man sich kurz fassen muss, beschränkt man sich aufs Wesentliche, schreibt dafür öfter. Was dann der Bildpostkarte binnen weniger Jahre einen ungeheuren Boom bescherte – und die Phantasie der Kartenhersteller zu ungeahnten Luftsprüngen reizte. Denn natürlich boten sich die Ansichtskarten auch dafür an, der Welt zu zeigen, wie ausnahmslos herrlich der Absendeort ist. Wie das alles wuchs und gedieh. Und in der Südvorstadt ging spätestens ab 1865 die Post ab. Der Königsplatz mauserte sich binnen weniger Jahre zu einem repräsentativen Stadtplatz mit einer Reihe markanter Gebäude – vom Kaufhaus der Gebrüder Ury über das Königliche Amtsgericht (heute die Polizeidirektion) bis zum Grassi-Museum, in dessen damaligem Heim heute die Stadtbibliothek untergebracht ist.
Der Bildband zeigt die markanten Gebäudeensembles, die seinerzeit auch Teil des Leipziger Selbstverständnisses waren – die Markthalle, den Mägdebrunnen vor der Einfahrt in die Kurprinzstraße – selbst der alte Kurprinz, der für den Straßendurchbruch abgerissen wurde, ist noch abgebildet: ein Stück Landwirtschaft mitten in der Stadt. Man entdeckt den Biergarten hinterm Panorama, sieht das legendäre Café Bauer in all seiner Pracht und die diversen Hotels, die dieses Stadtgebiet prägten.Die Südvorstadt ist in Etappen gewachsen. Und diese Wachstumsphasen kann man auch in diesem Bildband nachvollziehen. Vom Königs- und Rossplatz geht es in die Entwicklung des Peterssteinwegs, an dem entlang sich die Stadt langsam Richtung Süden entwickelte. Im Viertel entstand die neue Peterskirche. Die Eröffnung des Bayrischen Bahnhofs 1842 machte die Windmühlenstraße zu einer der geschäftigsten Straßen Leipzigs. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Stadtentwicklung an der damaligen Stadtgrenze angelangt. Das 1856 errichtete Zeitzer Torhaus erzählt von diesem Kapitel. Einen Teil daraus hat ja Michael Liebmann in seinem Buch “Brandvorwerk” ausführlicher erzählt. Doch ab 1865 gab es kein Halten mehr. Ab jetzt wurde der komplette Raum bis nach Connewitz mit einem geometrischen Straßenraster überplant und die Zeitzer Straße als Südstraße und Prachtallee fortgesetzt. Der “Broadway des Südens” – die heutige Karl-Liebknecht-Straße – nahm endgültig Gestalt an. Und einige Ansichtskarten zeigen sehr eindrucksvoll, wie imposant die durchgehenden Baumreihen auf den breiten Bürgersteigen damals aussahen.
Kein Wunder, dass engagierte Bürger auch in heutigen Bauprojekten um den Erhalt dieser Qualitäten kämpfen. Sie waren damals kein Zufall. Und sie tragen bis heute zur Attraktion der Südvorstadt bei, die auch noch über andere Prachtmeilen verfügt – wie etwa die großbürgerlich gedachte August-Bebel-Straße. Aber auch die seinerzeit sinnvollerweise mitgeplanten Schmuckplätze werden bedacht. Und die drei verlorenen Schulen am Dürerplatz bekommen eine ausführliche Würdigung.
Es gibt einiges auch in diesem Stadtbezirk, was einer Revitalisierung harrt. Die Öffnung des Pleißemühlgrabens an der Wundtstraße gehört ganz bestimmt dazu. Der Schlachthof, der einst an der Altenburger Straße die Dominante bildete, ist heute Sitz des MDR. An der Kohlenstraße gibt es keine Kohleverladung mehr.
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Einige wenige Gaststätten gibt es noch am ursprünglichen Ort. Aber die Südvorstädter lieben sie gerade auch deshalb – das Café Maitre, das Café Grundmann, das Volkshaus, dessen turbulente Geschichte seit Zeiten des “Tivoli” ebenfalls anschaulich wird.
Das Format der Ortsteil-Besichtigungen anhand alter Ansichtskarten macht ein Stück Leipzig sichtbar, dass zwar viele unbekannte oder verschwundene Seiten hat, da und dort aber ist die Straßenansicht verblüffend vertraut, sieht es genauso aus wie vor 100 Jahren. Nur Details im Bild wie Reiter, Pferdefuhrwerke oder die alten Straßenbahnwagen erinnern daran, dass die Menschen, die einem hier so jung und vertraut erscheinen, selbst längst verschwunden sind. Die Häuser stehen noch – oder wieder – in alter Schönheit. Das Flair der Gründerzeit wurde als alte, neue Wohnqualität wiederentdeckt.
Das Fehlen der Autokolonnen freilich gibt den Bildern auch eine erstaunliche Gelassenheit. Niemand muss an Ampeln warten oder aufs Tempo drücken. Und fürs Foto kommen auch mal alle Hausbewohner, die Kunden der Fischhandlung oder alle Stammgäste der Eckkneipe mit vors Haus. Bitte lächeln. Nicht wackeln. Und – klick – sind ein paar Herren mit steifen Hüten und ernsten Schnurrbärten festgehalten für die nächsten hundert Jahre. Selbst der Hund des Wirts ist mit drauf. Oder das Pferd des Essigfabrikanten Max Peter. Liebevoll koloriert, so dass man auch die Südvorstadt des frühen 20. Jahrhundert ein wenig in Farbe sieht.
Oswald Müller, Thomas Nabert “Südvorstadt. Ein Leipziger Ortsteil auf alten Ansichtskarten”, Pro Leipzig, Leipzig 2013, 18 Euro
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