Wenn am heutigen Sonntag, 14. Juli, um 16 Uhr die neuen "Identitätsinseln" in der Ausstellung "Moderne Zeiten" im Alten Rathaus eröffnet werden, dann ist auch druckfrisch der neue dabei: der Katalog zur Dauerausstellung "Moderne Zeiten. Leipzig von der Industrialisierung bis zur Gegenwart" - ganz in Weiß. Vor zwei Jahren, als dieser moderne Teil der Dauerausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums eröffnet wurde, war sein schwarzer Bruder erschienen - der Themenband.
Es ist ein Experiment, ein Ausloten der Möglichkeiten. Schon mit der vom Studio Kernland gestalteten Ausstellung “Moderne Zeiten”, die die Leipziger Geschichte ab 1813 bis zur Gegenwart irgendwie fassen soll, wurde der klassische Kanon einer musealen Ausstellung verlassen. Es gibt Hörstationen und Video-Bildschirme, die Zeitreise ist wie eine Fahrt mit der U-Bahn organisiert, die Übergänge sind zumeist fließend. Man schreitet nicht mehr von Geschichtsepoche zu Geschichtsepoche. Und eigentlich fängt die Zeit auch nicht erst in den 1920er Jahren zu tanzen an, was in der Ausstellung durch auf einmal steil aufwogende Fließbänder verdeutlicht wird.
Die Ausstellung selbst zeigt, dass selbst die Museumsmacher beim Konzipieren allerhand Neues lernten. Auch wenn es noch nicht ganz zu fassen ist. Schiefe Ebenen, dunkle Wände, schwarze Boxen oder die ganzen Symbole von rigide ausgeübter Macht und Gewalt sind nur Versuche, etwas zu beschreiben, was noch heute die Gesellschaft zerreißt, irritiert, in endlose Debatten zwingt. War da eben nicht ein Francis Fukuyama, der Kraft seiner Wassersuppe meinte, das Ende der Geschichte erklären zu müssen, bloß weil der schreckliche Kommunismus in die Knie gegangen war? Schluss mit dem Ost-West-Konflikt und den alten Machtblöcken?
Die so alt nie waren, wie sie aussahen – regiert von betonierten Greisen. In Ost wie West.
Und kaum war der ganze Klumpatsch zusammengesackt wie ein Luftballon, dem die Luft entweicht, kamen auf einmal die alten Gespenster zum Vorschein – der Nationalismus, die entfesselte Gier der vom Geld Besessenen, die Lust auf neue Kriege und uralte Klischees.
Deswegen gibt es in der Ausstellung auch keine Erlösung. Man sieht kurz vorm Ende die Bereitschaftspolizisten stehen, an Stelle ihrer Gesichter kleine Monitore, in denen sich die Ereignisse des Jahres 1989 zeigen. Und danach? Endpunkt der Geschichte? – Wer sich vom Wiener Kongress, der verordneten Biedermeierzeit, der Demagogenverfolgung und der verkorksten 1948er Revolution, die mit einer neuen Restaurierungsphase und hohen Zuchthausstrafen für die letztlich friedlichen deutschen Revolutionäre endete, durchgekämpft hat durch Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und DDR-Zeit, der steht mal wieder vor einer weit aufgerissenen Tür. Die Gewissheiten der Ideologien haben sich in lauter Fragezeichen aufgelöst. Geschichte ist wieder so sinn- und ziellos, wie sie immer war.
Der 430 Seiten dicke und entsprechend schwere Katalog zeigt jetzt zum Nachblättern, was die Ausstellung schon zu artikulieren versuchte. Die Kapitel sind natürlich Provisorien. Wie jede Geschichtserklärung ein Provisorium ist. Denn: Wo beginnt eigentlich die Moderne? 1918 mit der Novemberrevolution und dem Ausrufen der Republik? Oder schon 1871, mit der Gründung des Bismarckschen Reiches und den Kriegs-Zahlungen aus Frankreich, die die deutsche Industrialisierung befeuerten?
Oder schon früher? – Vielleicht sogar 1830 schon, als Leipzig erstmals einen gewählten Stadtrat bekam und die Pläne für die erste deutsche Ferneisenbahn zwischen Leipzig und Dresden konkret wurden? – Wer durch die Ausstellung geht, merkt, dass da etwas passiert sein muss. Das “Biedermeier” war ja selbst für die Zeitgenossen schon der Versuch, eine “gute alte Zeit” zurückzubeschwören. Eine Flucht aus einem sich immer mehr beschleunigenden Zustand der Welt. Den die Leipziger natürlich als erste und am heftigsten erlebten. Deswegen war die Stadt im 19. Jahrhundert für all die Leute so spannend, die diese Beschleunigung gut fanden – und selbst gern noch beschleunigen wollten. Und dabei auch immer wieder mit jenen zusammenrasselten, die mit aller Macht beim alten Stiefel bleiben wollten.
Man spürt diese Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in der Ausstellung. Im Katalog wird sie bildlich fassbar. Denn ab 1850 sieht man den Bruch in den Bilderwelten. Aus der bis dahin dominierenden geradezu idyllischen Stadtbetrachtung (man betrachte nur die beschaulichen Grafiken von Georg Emanuel Opiz auf den Seiten 28/29), als selbst die neu entstehenden Fabriken eher als romantisch schmauchende Einsprengsel in hübscher Landschaft dargestellt wurden, wandelte sich das Bild der Stadt immer mehr zu dem einer technisierten, von Aufbau und Abriss geprägten Welt. Mit der Fotografie verändert sich die Bildsprache zusätzlich.
Was nicht nur ein Abbild-Effekt ist. Denn prägend für diese sich heranwälzende Moderne war ja auch die Entstehung der modernen (Massen-)Medien. Auch Zeitungen und Zeitschriften blieben nicht mehr beschaulich. Und das Ergebnis waren natürlich auch immer sichtbarer werdende Strömungen, die sich gegen diese Veränderungen auf zuweilen irrationale Art wehrten. Uralte Ängste und Vorurteile bekamen ein modernes Gewand. Und so macht der Katalog auch den zunehmend institutionalisierten Antisemitismus in Leipzig weit vor 1933 sichtbar. Der sich, wenn man genauer hinschaut, als gründliches Unbehagen mit der neuen, vom Kapital gejagten Welt entpuppt. So taucht er bei Wagner auf, und bei Marx, zu finden aber auch beim konservativen Leipziger Großbürgertum, das jetzt auf einmal erfolgreiche Mitbewerber hatte, die noch wenige Jahrzehnte vorher in ihrem Ghetto lebten – und nun die Chance auf bürgerliche Integration erfolgreich nutzten.Die Ängste sind bis heute vorhanden. Und sie prägten natürlich auch alle modernen Versuche, dafür eine adäquate Gesellschaftsform zu finden. Und wer ehrlich ist, der sieht, dass auch das 1871 zusammengeschweißte Kaiserreich am Ende fast eine Diktatur war. Die Diktatoren des 20. Jahrhunderts hatten ihre experimentellen Vorläufer im 19. Jahrhundert.
Verständlich, dass auch die Leipziger sich dann lieber andere Identifikationsebenen suchten, die in der Ausstellung als Messe-, Musik-, Sport- und Buchstadt zu sehen sind. Man kann sie auch als Flucht-Identifikationen beschreiben. Was an dieser Stelle vielleicht ein bisschen aufmüpfig ist. Aber auch die Leipziger in ihrer Mehrheit flüchten gern. Was scheinbar jenem grandiosen Herbst 1989 widerspricht. Aber maximal bis zum Januar 1990. Dann packten viele doch lieber ihre Koffer und reisten in den Westen. Und die anderen ließen die Treuhand abwickeln, was abzuwickeln war. Mit bekannten Resultaten. Die dann 2003 wieder in fröhlich umgedeuteter Variante zurückkehrten als silbern jubelnder olympischer Geist. Einen Moment lang träumte eine ganze von diesem Geist trunkene Stadtgesellschaft davon, einmal die Olympischen Spiele veranstalten zu dürfen.
Das IOC blieb dann zum Glück entsprechend nüchtern.
Der Katalog bietet in ähnlicher grafischer Anmutung wie der (schwarze) Themenband von 2011 und die Ausstellung selbst Bilder über Bilder, etliches davon längst fester Bestandteil der Leipziger Stadt-Ikonografie. Ganze Bilderserien darin, an denen man die Lust des Bilderchefs des Stadtgeschichtlichen Museums, Christoph Kaufmann, an der modernen (Stadt-)Fotografie sieht. Im Anhang hat er sich etwas ganz Besonderes gegönnt: eine fotografische Reise durch rund 150 Jahre Kinderfotografie – “Kinder einer Stadt”. Von Kinderfotografien der berühmten Leipziger Fotografin Bertha Wehnert-Beckmann bis hin zu den durchaus zeitkritischen Fotos einiger Fotografen der Gegenwart.
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Kurze Texte auf Deutsch und Englisch begleiten den Katalogleser, der in diesem gewichtigen Band sicher auch Manches vermissen wird. Denn die Tragik einer jüngeren Geschichte ist natürlich auch, dass es viel zu viele Sammlungsstücke gibt. Welche wählt man aus? Was beschreibt die Geschichte der Stadt tatsächlich adäquat? – Immerhin für Leipzig ein ganz aktuelles Thema. Denn bis 1990 war ja auch in den Leipziger Museen eine völlig andere Interpretation der Geschichte zu sehen, standen andere Ikonen und Lehrmeinungen im Mittelpunkt.
Die Perspektive hat sich geändert. Aber wird es die gültige für die nächsten Jahre und Jahrzehnte bleiben? – Wohl eher nicht. Denn Etliches, was dicht an den Ereignissen noch ungemein wichtig wirkte, wird aus der zeitlichen Distanz immer blasser. Anderes aber, was man jahrzehntelang schlicht nicht mehr beachtete, erweist sich als wichtige Weichenstellung. So wie das Jahr 1913 mit seiner Einweihung des Völkerschlachtdenkmals, der IBA und dem gewaltigen Turnfest, dem Vorkriegsjahr.
Und das Erstaunliche ist, wie alt die Bilder und Fakten aus der jüngsten Leipziger Geschichte nach 1990 schon wieder wirken, wenn man sie in so einem Katalog sieht. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass sich das ganze Projekt, das wir vielleicht Moderne nennen können, noch weiter beschleunigt hat.
Dr. Volker Rodekamp (Hrsg.) “Moderne Zeiten. Leipzig von der Industrialisierung bis zur Gegenwart”, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Leipzig 2013, 29,90 Euro
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