Wie nähert man sich einem Bundesland wie Thüringen? Einst ein wahrer Flickenteppich aus kleinen Grafschaften und Herzogtümern, mal reußig, mal schwarzenburgisch, mal sächsisch? Kunstvoll zusammengesetzt erst 1920 aus sieben - sprich: sieben - einzelnen Winzig-Freistaaten. Wenn Tobias Prüwer sich in einem ganzen Kapitel so äußerst kritisch mit dem Thema Mitteldeutschland beschäftigt, ist er - wie so viele Autoren - hin- und hergerissen. Natürlich ist der Freistaat Thüringen nicht Baum und nicht Borke.

Ein Kunstprodukt, das sich einen altehrwürdigen Namen umgehängt hat – den des alten Thüringerreiches, das es im 6. Jahrhundert mal gab. Als die Leute, die die Römer Germanen nannten, sich in großen Stammesverbänden organisierten. Nur dass die Thüringer noch früher unter die Räder kamen als die Sachsen – und ihr Reich für immer verschwand. Das Gebiet, wo heute der rot-weiß gestreifte Löwe draufklebt, ist auch heute noch ein Flickenteppich aus etlichen Idiomen, die auf die tausendjährige Existenz als Heimat vieler Herren verweisen – nordöstlich ins Sächsische driftend, westlich ins Hessische, südlich ins Fränkische. (Mehr dazu im Kapitel: “Mundarten und Zungenschläge”). Im Herzen gastlich und lebelustig – über die Freude an Kuchen, Klößen und Bratwürsten wurde in der Kochbuchrubrik der L-IZ ja schon mehrfach berichtet.

Aber im Grunde mit knapp 2 Millionen Einwohnern (laut Zensus 2011: 2,188 Millionen) und 16.172 Quadratkilometer Fläche (von der ein Drittel Wald ist) ist Thüringen eigentlich zu klein, um wirklich im Wettbewerb der Bundesländer mitzuhalten. Da geht es dem Land wie dem benachbarten Freistaat Sachsen und dem Land Sachsen-Anhalt. Strukturen werden viel zu klein gedacht, Stärken nicht gebündelt, Interessen nicht gemeinsam vertreten. Und die drei verbliebenen Fürsten in dem Gebiet, das man nun wieder irgendwie Mitteldeutschland nennt, denken so kleinkariert wie die einstigen Reußen und Bindestrich-Sachsen und was da sonst noch so war.

Das Geflickte und Zusammengepuzzelte spiegelt sich auch in Tobias Prüwers Panoptikum. Was ja nur heißt: “alles sehen”. Gern genommen als Bezeichnungen für Wachsfigurenkabinette und Wunderkammern. Ein wenig kennt das der Liebhaber von Reiseführern. Bei Städten geht das ja noch, da geht man am Stadttor los, findet Rathaus, Stadtkirche und die örtlich gepriesene Wunderkammer, die man in der Neuzeit meist Museum nennt. Menschen sind wie Eichhörnchen: Sie sammeln alles, was irgendwie aufhebenswert erscheint, packen es in ein schönes, teures Versteck, schreiben Museum dran und nehmen Eintritt.

Eintritt muss man nicht zahlen, wenn man nach Thüringen fährt. Aber man findet allerlei Kleinodien, die an die gute alte Zeit der Kleinstfürstentümer erinnern – hübsche Schmuckschatullen von einstigen Hoftheatern, liebevoll restaurierte Schlösser, Altersresidenzen und Burgen wie die berühmte Wartburg. Wunderkammern haben nur einen Zweck: Staunen zu machen. Vor allem darüber, was alles hineinpasst in so ein kleines Zimmer. Jede Menge Landschaft mit Bergen und Rennsteig (der ja so heißt, weil Soldaten hier besonders gut rennen konnten zum nächsten großen Gemetzel), Bäume, Parks und Dichter. Noch und nöcher. Einige bekannt und verklärt – wie der Professor Schiller und der Geheimrat Goethe, andere auf eiliger Durchreise wie Herr Seume aus Grimma oder in geistiger Umnachtung, wie Herr Nietzsche aus Naumburg.
Selbst die Skatstadt Altenburg passt mit rein und eine Universität, die einen Burschen namens Luther hervorbrachte, in Erfurt. Nicht wiederzufinden. Sie wurde wegen mangelnden Zuspruches aufgelöst – was Prüwer natürlich damit erklären muss, dass ersten die Leipziger 1409 ihre Uni, und zweitens die Wittenberger 1502 ihre Uni, und dann auch noch die Hallenser 1694 ihre Uni … Das kann nicht gut gehen. Zuviel Konkurrenz verdirbt den Magen.

Prüwer kommt auf große Brände, Erdschläge und Überflutungen zu sprechen. Das gehörte jahrhundertelang zum Leben der Menschen. Und wenn man schon bei Naturgewalten ist, kommt man auch schnell auf die Märchen und Sagen. Und ein Fitzelchen von Thüringen gehört ja sogar zur deutschen Märchenstraße, die sonst eher durch Hessen kurvt und erklärt, warum ausgerechnet Frankfurt am Main zur Bankenhauptstadt Deutschlands wurde. Wo man Stroh zu Gold spinnen kann, da lass dich ruhig nieder.

Die Thüringer haben dafür Frau Holle, wofür es auch sagenhafte Belege und entsprechende Landschaftsmarken gibt. Was sich auch deshalb so gut erhielt, weil deutsche Geschichte eigentlich eine sehr kurze Geschichte ist. 1.000 Jahre sind nix. Eben noch kamen die ganzen Walter und Bennos, um an einem schon seit Urzeiten benannten Flüsschen eine neue Rodung anzusetzen, schon ist der ganze Krempel eine kleine Stadt. Oder eine größere. Und oben auf dem Berghügel sitzt ein Ritter, der behauptet, das Ganze gehöre ihm und seinen grausigen Nachfahren.

Deswegen kommen auch in Thüringen so viele Ritter vor in den Märchen und Sagen, die Prüwer geradezu aus dem Handgelenk schüttelt, ganz so, als hätte er vor dem ersten Wort in seinem Buch (“Endlich!”) die komplette Thüringer Märchenbibliothek durchgeschrotet. Auch wenn man sich auf deren Auslese beschränken kann. Die hat Ludwig Bechstein zusammengetragen, der in Thüringen mindestens so berühmt ist wie die Grimms in Hessen. Da kommen Riesen drin vor, verwunschene Jungfrauen, natürlich Ritter und ihre seltsamen Hinterlassenschaften. Haben die rostigen Kerle nun Vielweiberei betrieben? Und wo haben diese Räuber all ihre geräuberten Schätze versteckt?

Im 19. Jahrhundert muss die Suche nach diesen verborgenen Goldtruhen heimliche Ausmaße angenommen haben. In neueren Zeiten sind Thüringens Burgen eher wieder Tummelplatz für Gaukler, Spielleute und spielende Rittersleut. Die ganz alte gute Zeit ist nach 200 Jahren Fleißarbeit begabter Autoren ein Sehnsuchtsreich geworden, in das man sich flüchten kann – von Burg zu Burg, von Mittelalterspektakel zu Mittelalterspektakel. Das andere erwähnt Prüwer kritischerweise: Für die meisten Leute war Mittelalter Hunger, Seuche, Schinderei. Und über den nächsten Berg kamen die meisten nie hinaus.

Höchstens, sie schleppten die fertige Kiepe mit dem Holzspielzeug zum Verleger in der nächsten Stadt, damit die reichen Kinder anderswo zu Weihnachten was Hübsches geschenkt bekommen konnten.

Später gab’s dann für ganz kluge Kinder den großen Brehm als Belohnung, wenn sie brav waren. Wie aber kam Brehm nach Thüringen, wo er doch in Leipzig in der Kneipe hockte? – Die Antwort heißt Meyer. Herr Meyer gründete in Gotha sein Bibliografisches Institut, das er dann nach Hildburghausen verlegte, bevor er sich entschloss, in Leipzig richtig Kasse zu machen – mit dem Konversations-Lexikon genauso wie mit Brehms fabulösen Schilderungen aus dem Tierleben.

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Thüringen
Tobias Prüwer, Salier Verlag 2013, 18,00 Euro

Die wirklich finsteren Seiten Thüringens berührt Prüwer nur vorsichtig. Soll ja kein Gruselkabinett werden, sondern ein Freuden-Schmöker für alle, die dieses Gefühl mögen: Du wanderst ja so gern und schnurstracks vor dich hin – und schon hast du drei Landesgrenzen überschritten, fünf Zollbeamte düpiert und sieben Residenzchen verpasst. Drum gehe man geruhsam durchs Land, am Ende landet man ja doch in Weimar bei Herrn Goethe und der bewegenden Frage nach Schillers Schädel (Sie werden ihn nie wiederfinden!).

Dafür kommt Jena nicht vor, als hätte Tobias Prüwer beim Hin- und Hereilen glatt vergessen, es im Ortsregister zu vermerken. Natürlich kommt’s doch vor. Denn Herr Schiller war dort ja Professor und Winzerla “hat ja schon den Weinbau im Namen”. Und ist nun Teil der jüngeren, etwas eingebräunten Geschichte von Thüringen. Aber am Ortsregister kann man sehen, welche Flecken in seiner Lieblingsheimat Tobias Prüwer besonders mag. Einige findet er aber einfach nur schön, weil sie so unverwechselbar klingen: Magdala, Milz, Schellzehn, Possen oder Lederhose. Wer sucht, der findet. Und sollte seinen Bechstein nicht vergessen, wenn er loszieht, die Heimat des Philosophen, Historikers und Journalisten Prüwer zu entdecken. Heringssalat und Doppelkorn eingeschlossen.

http://salierverlag.de

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