René Koch ist Star-Visagist. So darf sich einer nennen, der die Stars und Sternchen (wieder) hübsch macht vor dem Auftritt. Und dann selbst so bekannt wird, dass er selbst ein kleiner Star ist. Star einer Welt, die auf Äußerlichkeiten nicht nur Wert legt, in der das Äußere auch oft genug über Wohl und Wehe, Aufstieg und Misserfolg entscheidet. "Trau' dich! Roter Mund als Mittel zum Erfolg", heißt denn auch eins der Kapitel in diesem Buch.

Geschrieben hat es René Koch zum 130. Geburtstag des Lippenstifts. Einen kleinen “amüsanten Streifzug durch die Geschichte des Lippenrots” gibt es im hinteren Teil des Büchleins auch – zwei französische Parfümeure stellten auf der Weltausstellung in Amsterdam 1883 erstmals einen in Seidenpapier gewickelten Stift aus gefärbtem Rizinusöl, Hirschtalg und Bienenwachs vor. Das Produkt hat sich in den folgenden Jahrzehnten immer weiter entwickelt, wurde so nach und nach auch für kleinere Geldbeutel erschwinglich und zum ständigen Begleiter in Damenhandtaschen. Ob es die schärfste Waffe im Arsenal einer schönen Frau ist, darf man wohl bezweifeln. Aber zaubern kann man damit. Das stimmt wohl. Der größere Teil des Buches ist mit dieser Zauberei gefüllt. Da erklärt René Koch, wie das mit den Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winter-Typen ist, wie man auf Gesichtsformen und Lippenformen Rücksicht nimmt, wie man mit der richtigen Farbe den gewünschten Effekt erzielt.

Oder frau, was egal ist. Denn Männer, die auf den Bühnen und Laufstegen dieser Welt zugange sind, schminken sich ja auch. Legen sich auch für Schönheitsoperationen unters Messer. Nicht nur Frauen sind oft geradezu versessen auf die bewundernden Blicke der Öffentlichkeit. Deswegen ist der Zauber mit den roten Lippen auch nicht nur 130 Jahre alt.Die archäologisch erschlossene Menschheitsgeschichte ist voller Berichte und Funde zur weiblichen Kosmetik. Und die schönen Geschöpfe taten dabei zuweilen höchst seltsame Dinge, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Rote Lippen zum Beispiel, die natürlich auch ein erotisches Signal sind.

Auch dazu gibt es ein eigenes Kapitel. Und eine Neuzeit-Historie, die den Lippenstift bis in die 1920er Jahre unter den verruchten Utensilien verbuchte. Es war wohl die große Schauspielerin Sarah Bernhardt, die den Lippenstift wirklich populär machte. Aber zur legalen Waffe wurde er erst in den 1920er Jahren, als nicht nur Sängerinnen und Schauspielerinnen (nun auch im Film), die Zuschauer mit farblich betonten Lippen beeindruckten, sondern das Lippenrot auch mit der zunehmend lasziveren Mode ins Leben der jungen Frauen überall in der westlichen Welt vordrang. Man wollte ja den Vorbildern ähneln, die so verführerisch wirkten.

Das ist bis heute so. Der Mensch ist ungern nur bei sich. Und ungern auch ganz nackt. Auch nicht im Gesicht. Die Schönen legen Rouge und Lippenrot auf, die Männer lassen sich wieder Kraut wachsen wie ihre Urgroßväter.

René Koch will zwar entdeckt haben, dass Männer wieder mehr Mut auch zur Farbe in der Kleidung zeigen. Mit roten T-Shirts und Schlipsen und so. Ein wenig ist sein Buch auch ein Lob auf das Rot als Signal- und Lieblingsfarbe. Aber bestimmt lebt er in einer ganz besonderen Welt. Die Männer, die man in Leipzig auf der Straße trifft, tragen entweder Grau (kompromissbereit), Schwarz (“Wer Schwarz trägt, wirkt beeindruckend”) oder billiges bunt bedrucktes Zeug aus zusammengestürzten Kleiderfabriken in Bangladesch. Was am Preis liegen kann. Oder an der Ratlosigkeit. Denn Farbe, Kleidung und Stil sind auch immer Botschaften. Sie sind etwas leichter zu entschlüsseln, wenn man, wie Koch, die Farbenpsychologie kennt – oder zumindest weiß, womit man sich wohl fühlt.

Wenn man’s nicht weiß, zieht man an, was die Werbeplakate feil bieten für 9,99 oder 29,99. Mit allem, was draufgedruckt ist.Wissend auch, dass jede und jeder, die sich wirklich mutig kleiden und bemalen, auffallen. Das muss man sich trauen. Deswegen fängt Koch sein Büchlein auch lieber erst mal mit ein paar Sätzen zum Selbstbewusstsein an. Denn das leuchtende Rot, das er so feiert, muss sich eine und einer auch erst mal trauen zu tragen. Traut man sich das? Oder wächst man hinein? Wird mit dem knalligen Signalton die Botschaft auch zur Verwandlung des eigenen Ich? – Von außen betrachtet bestimmt. Wer eine schön geschminkte Frau sieht, sieht zwei Frauen, wenn er gut hinschaut: die stolze Schöne und die gut Versteckte. Die in der Regel genauso schön ist wie das Kunstwerk, das sie aus sich gemacht hat. Nur anders schön. Privater. Deswegen werden Männer immer sehr unsicher, wenn sie mit gut geschminkten Frauen zu tun haben. Man will ja das Kunstwerk nicht beschädigen. Auch wenn moderne Lippenstifte gut haltbar sind, schreibt Koch. Zitiert aber gleich wieder eine japanische Firma, die weiß, dass Ehemänner reihenweise ertappt werden, weil sie das falsche Lippenstiftrot an der Wange oder am Kragen haben.

Was wir natürlich nicht glauben. Wahrscheinlich ist es eine auf Lippenstiftreiniger spezialisierte Firma.

Kochs Buch zeigt auch ein wenig, wie verdreht unsere Welt ist (sonst hätte er auch die Japaner nicht zitiert). Denn wenn der schöne Schein Bedingung für den Erfolg ist, erzählt das von einer Welt, in der das ausgestrahlte Selbstbewusstsein den Weg auf der Karriereleiter bestimmt. Oder den raschen Absturz, wenn die Kollegen anfangen zu lästern. Und er sagt es nicht direkt, deutet es aber an: Karriere macht Frau in der Regel nur, wenn sie das entsprechende Erscheinungsbild hat. Nebst Professionalität und Kompetenz. Kapitel: “Erfolgsgarant Lippenstift”.

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ne Lippe riskieren
Rene Koch, Buchverlag für die Frau 2013, 12,90 Euro

So viel zum “Kampf auf der Karriereleiter”. Und zu dem, was man so als das Schönheitsideal der Gegenwart bezeichnen könnte. Das sich auch immer wieder verändert, aber irgendwie schon seit Beginn der Filmära irgendwie recht ratlos schwankt zwischen geheimnisvollem Vamp und Lolita. Frau als sexy Anschauungsobjekt. Im Bild der Frau spiegeln sich die übersteigerten Sehnsüchte gewisser geschäftstüchtiger Männer.

Wahrscheinlich jener 20 Prozent, die auf Rot sofort reagieren und die Pfauenfedern ausfahren. Die auch Frauen mit Piercing und gebotoxten Lippen toll finden. Oder gar Home-Shopping-Kanäle. Hinten im Buch kommt das alte, grummelnde Unbehagen. Nein, das ist wirklich eine andere Welt. Eine, in der sich Frauenzeitschriften und Klatschmagazine bestens verkaufen und Mädchen lernen, dass sie mit bravem Stöckeln im Scheinwerferlicht irgendetwas werden. Unsereiner mag Frauen irgendwie doch lieber naturell.

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