Das wäre schön: Es gäbe einen Briefkasten, in den steckte man alle seine unbeantworteten Fragen zur Stadtgeschichte - und sofort setzen sich Leipzigs fleißige Stadtforscher an die Arbeit und erkunden das Thema. Und im nächsten Jahrbuch zur Leipziger Stadtgeschichte steht alles drin. Aber das sähe dann wohl ganz ähnlich aus wie das, das der Leipziger Geschichtsverein sowieso veröffentlicht.

Denn die Historiker, die sich in Leipzig und Region mit Einzelthemen zur Geschichte beschäftigen, sind ja sowieso am Werk. Manche haben ihre Leitthemen, die sie abarbeiten, manche stolpern durch ihre Arbeit in Archiven und Messen über offene Fragen, andere stoßen über ihre Ausbildung an der Universität dazu. Und das Ergebnis ist jedes Mal ein fast 300 Seiten dickes Buch, das neben Rezensionen zu den im Jahresverlauf erschienenen historischen Büchern zur Leipziger Geschichte und ausführlichen Tagungsberichten auch immer etliche neuere Forschungsbeiträge enthält. Und die zeigen erst, wie viele Facetten die Geschichte einer 1.000 Jahre alten Stadt hat.

Das geht bei einer kleinen, aber spannende Frage los: Wo verliefen im Mittelalter die Grenzen zwischen den Pfarrsprengeln von St. Thomas und St. Nikolai? – Etwas, was auch gestandene Stadthistoriker bisher eher unter “ungeklärt” verbuchten. Was tun, wenn es so alte Pfarrbücher nicht gibt? Gibt es andere Quellen? – Marek Wejwoda hat sie ausgewertet und rückt dem Problem statistisch zu Leibe. Man lernt ja was draus, wenn heute jedes Mobiltelefon geortet werden kann und kraftmeierische Landesregierungen flächendeckende Funkzellenabfragen für ein gutes Aufklärungsmittel halten. Was sie nicht sind.

Aber Historiker wissen, wie man mit Namenslisten, Steuerberichten und derlei Dingen so umgeht, dass man dokumentierte Grablegen in den beiden Leipziger Stadtkirchen mit den Steuerlisten und den Listen der Kirchenväter abgleichen kann. Das Ergebnis ist erstaunlich. Praktisch straßengenau kann Wejwoda nun fürs 16. und 17. Jahrhundert aufmalen, wo die beiden Kirchsprengel in der Stadt aneinander stießen. Es sind nicht zufällig Petersstraße und Katharinenstraße. Aber so nebenbei entkräftet er noch eines dieser windigen Argumente, die noch in jüngster Zeit selbst von Historikern einfach nachgeplappert wurden: dass nämlich St. Nikolai die eigentliche Bürgerkirche war und St. Thomas schon deshalb, weil es vom Landesfürsten gestiftet worden war, eher die Kirche der “Obrigkeit”, von den selbstbewussten Bürgern eher gemieden. Aber das – so Wejwoda – müsste sich auch in der Zahl der Grablegen, Altäre und Stiftungen niederschlagen. Tut es aber nicht. Beide Stadtkirchen waren in den Herzen der Bürger immer fest verankert. Und der “Pfarrzwang” wurde wohl auch nie als “Zwang” empfunden, sondern als selbstverständliche Zugehörigkeit zu einer Gemeinde.

Aber falsche Thesen über Leipziger Geschichte gibt es noch immer zu Hauf. Mit einer ganz speziellen beschäftigt sich Rüdiger Otto, der einmal akribisch aufdröselt, was es mit Gottscheds “Vertrauter Rednergesellschaft” auf sich hat – und warum schon Zeitgenossen ihre Schwierigkeiten damit hatten, diese legendäre Einrichtung von anderen Leipziger Redner- und Übungsgesellschaften zu unterscheiden. Sandra Miehlbrandt versucht, einen fast vergessenen Leipziger Stadtbaurat wieder ins Bewusstsein zurückzuholen: Carl James Bühring, der von 1915 bis 1924 – in wirklich schwierigen Jahren – Stadtbaurat in Leipzig war und 1924 unter ähnlich kontroversen Umständen aus dem Amt scheiden musste wie sein Nachfolger Hubert Ritter 1930. Beide aber wichtig für die Moderne in Leipzig. Bühring blieb dann sogar in Leipzig und wurde zum ehrenamtlichen Architekten des damaligen “Zoos der Zukunft” – von ihm stammen zum Beispiel das ziegelgemauerte Elefantenhaus und die Bärenburg.
Maria Hübner verhilft einer Frau zu spätem Ruhm: der Stifterin Rahel Carolina Friederica Kees aus der berühmten Familie der sächsischen Postmeister. Eine Zuwendung für den Thomanerchor brachte sie auf die Spur, so dass zumindest das wohltätige Erbe der 1803 gestorbenen “Demoiselle Kees” sichtbar wird – wenn auch der Großteil ihres Lebens im Dunkel bleibt.

Und Gerald Kolditz, Referatsleiter im Staatsarchiv, nahm sich ein brandaktuelles Thema vor: Leipzigs “Kanalfrage”, die mit der Zustimmungsvorlage des Umweltdezernats jetzt wieder Thema im Stadtrat wird. Das Dezernat möchte sich gern das Wohlwollen für das 151 Millionen Euro teure Projekt der Kanalverbindung zwischen Elster und Saale bei den Leipziger Stadträten abholen.

Die Fürsprecher des Projekts verweisen ja auch immer wieder gern auf die 150-jährige Vorgeschichte des Kanals, die mit Carl Heines Kanalbau im Leipziger Westen begann und zumindest für die Stadtväter des späten 19. Jahrhunderts immer und ausschließlich ein wirtschaftliches Projekt war. Überall in Deutschland wurden seinerzeit Kanalprojekte vorangetrieben, mit denen man den Gütertransport verbilligen wollte. Vor allem ging es um große Mengen Stück- und Schüttgut. Nicht um Fertigprodukte. Nach Leipzig zum Beispiel wollte man große Mengen Steinkohle aus Schlesien und Steine aus der Sächsischen Schweiz verschiffen. Deswegen war die Verbindung zur Saale auch lange Zeit nicht das priorisierte Projekt, sondern eine 65 Kilometer lange Kanalverbindung nach Riesa an der Elbe. Das befürworteten zeitweilig auch Dutzende Kommunen aus der Region, selbst die Chemnitzer befürworteten es.

Dieser Kanal hatte auch noch den Vorteil: Er befand sich komplett auf sächsischem Gebiet. Denn jedes Kanalprojekt Richtung Norden oder Westen musste über preußisches Gebiet – und die Preußen stellten sich jedes Mal quer.

Es ist im Grunde eine ähnliche Geschichte wie beim Leipziger Hauptbahnhof, wo sich die Verhandlungen zwischen Sachsen und Preußen auch über Jahrzehnte hinzogen. Natürlich ging es auch immer um die eigenen wirtschaftlichen Interessen. Und auch für die damaligen Kanalprojekte musste die Wirtschaftlichkeitsfrage geklärt werden. Der Kanal nach Riesa scheiterte im Grunde an seinen exorbitanten Kosten und der Tatsache, dass auch die avisierte Transportmenge von 2,2 Millionen Tonnen so sicher nicht wahr. Denn je länger sich die Projekte hinzogen, um so besser war das Eisenbahnnetz ausgebaut. Und schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Leipzig und Dresden das Drei- bis Vierfache dessen per Bahn umgeschlagen, was man mit dem Kanal bewegen wollte. Es war leichter, neue Gleistrassen zu bauen, als in hydraulisch durchaus kompliziertem Terrain einen Kanal für 600-Tonnen-Schiffe, die auch jederzeit aneinander vorbei passieren konnten. Die Mulde musste mit einem Viadukt überbrückt werden, mehrere Hebewerke wären nötig gewesen, die Höhenunterschiede auszugleichen. Und ein Hafenbecken ungefähr dort, wo später die Technische Messe entstand.

Am Ende waren es wohl die reinen Kostenaspekte, die die Leipziger Kanal-Befürworter dazu brachten, sich auf die wesentlich kürzere Verbindung zur Saale zu konzentrieren – wohl wissend, dass das Mündungsgebiet der Saale auch erst mal von den Preußen für 400- oder 600-Tonnen-Schiffe schiffbar gemacht werden musste. Aber der Kanal zur Saale würde nur ein Drittel dessen gekostet haben, was der nach Riesa gekostet hätte. Doch wirklich Bewegung in die Sache kam erst in den 1930er Jahren, als der NS-Staat auch Kanalbauarbeiten als Beschäftigungsprogramm aufnahm. Da wurde de Lindenauer Hafen gebaut, für den Leipzig sogar extra eine Hafengesellschaft gründete, und das erste, 11 Kilometer lange Stück des Elster-Saale-Kanals. Bis die Bauarbeiter abgezogen wurden, weil sie am Mittellandkanal gebraucht wurden, der unter anderem die neue Autobauerstadt Wolfsburg passierte.

In DDR-Zeiten wurde noch einmal kurzzeitig überlegt, den Elster-Saale-Kanal auszubauen. Aber dazu fehlte das Geld völlig. Und nach 1990 entfielen die wirtschaftlichen Notwendigkeiten für so eine Kanalverbindung völlig. Man darf nicht vergessen: Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts waren es die großen Industrieunternehmen Leipzigs, die hinter dem Kanalprojekt standen. Doch der Versuch, die Bereitschaft zu erkunden, Aktien für den Kanalbau zu buchen, zeigte auch den damaligen Akteuren schon, dass der Wunsch der Unternehmer zwar da war – aber wirklich ins Risiko gehen wollten sie auch nicht, brauchten sie auch nicht. Kein Stadtgebiet war besser per Gleis erschlossen als der Leipziger Westen, wo die großen Schlote rauchten.

Kolditz betont es zwar nicht extra: Doch auch in prosperierenden Zeiten war der wirtschaftliche Betrieb der Kanalprojekte stets umstritten. Auf vollmundige Willensbekundungen folgten in der Regel neue Prüfaufträge, langes Schweigen und vorsichtige Skepsis der Behörden. Die Anfragen an Preußen trafen auch deshalb auf Schulterzucken, weil die Preußen genau wussten, dass sie bei so einem Projekt auch Millionen hätten beisteuern müssen. Sie wären vielleicht sogar für ein anderes Kanalprojekt gesprächsbereiter gewesen, das seinerzeit ebenfalls durch die Diskussion waberte: ein Kanal von Leipzig über Torgau nach Berlin. Das hätte zwei wichtige Wirtschaftszentren miteinander verbunden.

Aber auch das verschwand alsbald in den Archiven der unverwirklichten Träume.

Leipziger Geschichtsverein “Jahrbuch 2012. Leipziger Stadtgeschichte”, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2013, 15 Euro.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar