Wer Geschichte sehen will, der braucht sich in Mitteldeutschland nur in den Zug zu setzen und einen Tagesausflug zu unternehmen. Dazu muss nicht einmal ein Rucksack gepackt werden. Nur ein schönes Buch über die sächsischen Kaiser und Könige und ab Richtung Westen. Es fahren sogar Züge, auch wenn der Autor dieses neuen Stadtrundgangs seine Tour am Parkhaus an der Mauerstraße in Goslar beginnt.

Es sieht ja sogar fast so aus, als würde in ein paar Jahren jeder, der noch mit einer Blechkarosse durch die Landschaft gondelt, als Überlebender einer vergangenen Zeit betrachtet. Junge Leute fahren heutzutage lieber mit dem Fahrrad oder dem Zug. Das Automobil als Statussymbol hat Kratzer bekommen. Da hilft auch kein schwarzer Lack und kein silbernes Kühlerabzeichen – bald werden die Herren hinterm Steuer alle irgendwie so wirken wie einst die legendären Rennpappe-Fahrer in der DDR, jene alte, hornbrillenbewehrten Herren mit Honecker-Hut. Alles, was mal neu war, wirkt irgendwann alt. Das Lächerliche wird sichtbar. Auch die Eitelkeit.

Nach Goslar kommt man locker mit dem Zug. Und vor Ort gibt es schöne alte Hotels, nette Gasthäuser, viel zu laufen und eine Stadt, die zeigt, wie schön Geschichte aussehen kann. Das berühmteste Stück ist natürlich die Kaiserpfalz. Unter Kaiser Konrad vor fast 1.000 Jahren errichtet, von Kaiser Heinrich III. neu erbaut. Und gerade so noch über die Zeiten gerettet.Erst im 19. Jahrhundert besann man sich darauf, dieses Stück Geschichte zu retten und in Teilen wiederherzustellen. Nicht ganz originalgetreu, denn eigentlich versuchte man damit eher das neu gekürte Kaisergeschlecht der Hohenzollern zu ehren.

Einer von ihnen steht davor: Kaiser Wilhelm I. – hoch zu Ross. Neben Friedrich I., genannt Barbarossa – auch hoch zu Ross. Flankiert von zwei Braunschweiger Löwen, was dann wieder auf Heinrich den Löwen zurückgeht, Herzog von Sachsen und Bayern im 12. Jahrhundert. Da war der sächsische Herzogtitel noch in Braunschweig. Das eigentliche Wappentier der Welfen, aus deren Geschlecht Heinrich kam, war aber der Wolf. Es geht also munter durcheinander in dieser restaurierten Pfalz, die aber zumindest eine Ahnung gibt von dem, was mal eine Pfalz war in Zeiten, als die deutschen Kaiser durchs Land reisten, um Präsenz zu zeigen. Und weil sie dann für ein Weilchen residierten vor Ort, war so eine Pfalz ein richtiger Wirtschaftshof.

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Das kann man zumindest dokumentiert finden in der Ausstellung. Aber wir haben natürlich abgekürzt, sind quasi gleich durch die alte Stadt gerast, um auf der anderen Seite am Domplatz die Pfalz zu besichtigen. Dabei muss man hier langsam gehen. Das ist nicht Leipzig. Goslar gehört zu den Städten rund um den Harz, die ihr mittelalterliches Flair bewahrt haben. Fachwerkhäuser, Kemenaten, Klosterbauten, Gildenhäuser. All das, was in Leipzig verschwunden ist (hier aber auch mal alles stand), ist in Goslar noch zu sehen, eindrucksvoll restauriert, so winklig, wie es gewachsen ist. Auch noch Teile der alten Stadtbefestigung. Manches davon ist heute Hotel oder Wohnturm.

Es ist, als würde man als Leipziger 500 Jahre zurückfahren in die eigene Geschichte. Selbst das Goslarer Rathaus ist eigentlich die alte Markthalle auf dem Markt. Die Lauben im Erdgeschoss erinnern noch heute an ihre Nutzung als Verkaufsräume. Selbst der Huldigungssaal in dem alten Bau ist noch erhalten – ist aber so von den Touristenströmen geschädigt, dass er nicht mehr besucht werden kann. Dabei waren die Goslarer auch immer ein streitbares Völkchen, haben um ihre Unabhängigkeit gekämpft, wie es die Leipziger im Mittelalter auch mal taten. Die Goslarer bewahrten sich lange ihre Reichsunmittelbarkeit – nur der Kaiser stand über ihnen.Erst 1806 war Schluss mit der Freiheit, da steckte Napoleon die alte Bergwerksstadt mit in den großen Sack “Königreich Westphalen”. Danach wurde es Teil des Königreichs Hannover. 1866 kamen die Preußen. Womit man wieder bei Kaiser Wilhelm wäre. Das berühmte Bergwerk auf dem Rammelsberg, das bis 1988 in Betrieb war, kann man natürlich auch besuchen. Es ist – wie die Stadt – UNESCO-Welterbe. Es gibt nicht wirklich viele Orte auf Erden, an denen über 1.000 Jahre lang ununterbrochen Bergbau betrieben wurde. Hier ist einer. Womit der Reisende natürlich vor der Wahl steht – alles im D-Zug-Tempo abgrasen oder doch lieber ein paar Tage einplanen für Goslar? Mal raustakten aus der Leipziger Umtriebigkeit? – Vielleicht doch mal. Das Langsamgehen lohnt sich.

Jens Kassner weist mehrmals darauf hin, dass man durchaus auch die Baukunst der Zimmerleute bewundern sollte, die in Zeiten, als man noch nicht quadratisch-praktisch baute, mit elastischen Lösungen die Holzgefache den Krümmungen und Windungen des Geländes anpassten. Deswegen sieht Manches schief aus. Eben wie von Hand gebaut. Hält aber. Und verblüfft mit zuweilen neckischen Einfällen. Und man sieht, wo mal mehrere Vorgängerbauten kunstvoll vereint wurden. Zu dieser eingehenden Architekturbetrachtung empfiehlt Kassner die Schreiber- und die Frankenberger Straße.

Gleich um die Ecke: das Siemenshaus. Einst Wohnhaus der Goslarer Ratsherren und Bürgermeister der Familie Siemens. Aus dieser Familie stammt jener bekannte Werner von Siemens, der 1847 zusammen mit Johann Georg Halske in Berlin einen Weltkonzern gründete. 1916 kauften die von Siemens das Haus ihrer Vorfahren in Goslar zurück und brachten hier ihr Familienarchiv unter. Ein Krämerladen hat sich im Haus erhalten und ein komplettes Brauhaus. Auch so etwas gab es mal in Leipzig, nur dass die Leipziger, wie überliefert ist, nie besonders gutes Bier brauten. Weshalb sie dann später unter anderem ein Bier aus dem Preußischen importierten – die Gose.

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Goslar an einem Tag
Jens Kassner, Lehmstedt Verlag 2013, 4,95 Euro

Die ihren Namen von der Gose hat, die durch Goslar fließt. Es steht anzunehmen, dass auch die Siemens Gosebier brauten. Man darf sich also ein bisschen zu Hause fühlen. 27 Stationen hat Kassner in seinen Stadtführer aufgenommen. Das ist zu schaffen an einem Tag. Muss aber nicht geschafft werden.

Ruhige Plätzchen, um die Beine auszustrecken, gibt es genug. Und man bekommt auch Gose in den Gaststätten am Weg. Womit dann endgültig klar ist, warum es einfach dumm ist, mit dem Auto nach Goslar zu fahren, wenn man doch nach einem leckeren Bierchen mit dem Zug wieder heimwärts fahren kann.

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