Manches beginnt mit einem schönen gemeinsamen Winterwochenende. Draußen liegt Schnee, drinnen ist es schön warm. Auf dem Tisch stapeln sich Berge von Papier, etliche Bücher, ein paar Tassen mit Tee stehen dazwischen und ein paar Leute sitzen gemütlich drumherum und reden über Literatur. Ganz wissenschaftlich. Aber auch ganz praktisch. Und weil sie aus elf verschiedenen Ländern kommen, geht es um eine Gretchenfrage: Was kann eine Übersetzung eigentlich leisten?

Den Leser kümmert es nur anfangs nicht, wenn er noch jung und anspruchslos ist. Manche bleiben das ihr Leben lang. Denen reicht, wenn Blümchen und Herzchen und Reime vorkommen, dann halten sie alles für ein Gedicht. Aber die Mehrheit der Leser wird mit dem Lesen anspruchsvoller. Nicht nur bei Texten aus der eigenen Sprache, bei denen man schnell merkt, ob der Autor Stil, Charakter, Anspruch und Bildung hat. Was auch Jurys aller Art und aller Preise oft nicht unterscheiden können. Leser schon. Das merken dann die Verleger spätestens, wenn ein Autor sich gegen alle Erwartungen etabliert und auch noch nach Jahren seine Leser in den Bann zieht. Autorinnen natürlich auch. Literatur ist gerecht. Die Urteile, die die Zeit fällt, sind meist gnadenlos. Und ehrlich.

Schwieriger wird es schon mit übersetzter Literatur. Denn die gute Literatur in anderen Ländern ist genauso kompakt und komplex wie die gute Literatur im eigenen Land. Schnell übersetzen kann man immer. Das geht aber schief, wenn man kein Profi ist. Und Gedichte scheinen so schön kurz zu sein. Aber sie gehören zum Schwersten, was man übersetzen kann. Warum – darüber unterhielten sich die jungen Leute, die sich im Januar 2008 an der Ludwig-Maximilians-Universität München trafen. Ein Wochenende lang diskutierten die Doktorandinnen und Doktoranden des Internationalen Promotionsstudienganges “Literaturwissenschaft” über Gedichte. Und zwangsläufig auch über deren Übersetzung. Und die Schwierigkeiten und Überraschungen dabei.

Die Diskussion wurde an diesem Winterwochenende (das wohl nicht ganz so gemütlich war wie oben beschrieben) nicht beendet, sondern bis 2012 an verschiedenen Texten bekannter Autoren fortgesetzt. Zwölf der Gedichte, die in dieser Diskussion zur Sprache kamen, wurden für diesen Essayband von Brigitte Rath und Slávka Rude-Porubská ausgewählt, zwölf Gedichte von zwölf verschiedenen Dichtern aus zwölf verschiedenen Ländern. Der Band bietet die Original-Texte und jeweils eine Übersetzung, manchmal auch zwei. Das, was danach kommt, haben die Herausgeberinnen als Kommentar bezeichnet. Aber in den meisten Fällen sind es kleine oder größere Essays. Denn hier kommen nicht einfach Übersetzer zu Wort (auch wenn sich immer ein Gespann aus Muttersprachlern und deutschsprachigen Übersetzern gefunden hat), sondern eben Literaturwissenschaftler, Leute, die sich auch mit der Welt hinter den abgedruckten Versen beschäftigen. Denn die wird immer mitübersetzt, ob’s einer merkt oder nicht.

Wenn er’s nicht merkt, kann’s peinlich werden.Denn Dichter bringen immer sich selbst, ihre Zeit, ihre Kultur, ihre ganz persönliche jeweilige Situation mit. Und das reflektiert sich in den Texten. In der Wortwahl, in den Bezügen, in den mitschwingenden Deutungen. Und da Dichter in der Regel belesene Leute sind, haben ihre Texte auch vielfache Verwurzelungen in der als eigen empfundenen Literatur. Das kann die des eigenen Landes, des Kulturkreises oder eines ganzen Kontinents sein. Europa zum Beispiel. Als Goethe vor 200 Jahren den Begriff der “Nationalliteratur” erfand, war die reine Nationalliteratur schon längst Geschichte. Auch Goethe selbst überschritt, wenn er schrieb, immer wieder den Dunstkreis einer wie auch immer gearteten deutschen Nationalliteratur.

Manche Topoi der Literatur sind so stark, dass sie immer wieder von unterschiedlichen Autoren aufgegriffen werden. Homers “Odyssee” ist so ein Topos, den der griechische Dichter Konstantinos Kavafis in seinem Gedicht “Zweite Odyssee” aufgriff, in dem er direkt und indirekt Bezug nimmt auf zwei andere Autoren, die ihrerseits das Schicksal des Odysseus nach seiner Rückkehr nach Ithaka weitergesponnen haben. Die zweitberühmteste Adaption der “Odyssee”, die von James Joyce, hat er dann freilich noch nicht zitiert. Aber schon mit dem ersten Vernetzungsfeld wird die Übersetzung des Gedichtes selbst zu einer kleinen Odyssee. Und der Leser kann miterleben, wie sich ein scheinbar schmuckloses, auf einen simplen Vorgang reduziertes Gedicht auf einmal öffnet und weitet und zu einem kleinen (Literatur-)Abenteuer wird.

Im Grunde sind alle zwölf ausgewählten Gedichte auf ihre Weise Reise-Gedichte. Auch wenn es die Dichter auf unterschiedliche Weisen in die Welt verschlägt. Das kleine Gedicht “Nostalgia” von Giuseppe Ungaretti entpuppt sich als eine Szene aus seiner Zeit als Soldat im 1. Weltkrieg, mehrfach überarbeitet. Xu Zhimos “Erneuter Abschied von Cambridge” erweist sich als Abschied von einem Europa, das der Dichter wohl nicht wiedersah – und nur die Kenntnis der chinesischen Literatur eröffnet auch Interpretationen, die den Verlust einer großen Liebe anklingen lassen.

Gonzalo Escuderos “Heft von New York in Flammen” liest sich wie das Manifest eines terroristischen Anschlags – bis man den Autor auch zeitlich einordnen kann in ein von Armut und Revolution gebranntes Lateinamerika, das gerade begonnen hat, sich aus den Fesseln des “Großen Bruders” in Norden zu befreien. Und das auch noch längst nicht der literarische Kontinent ist, wie wir ihn heute kennen. Auch die Sprache und die Literatur müssen erst befreit werden. Und das in einer Welt, in der die großen Verlage des Nordens die Märkte beherrschen.Tragisch endet die Reise des ungarischen Dichters Mikós Radnotí: Das Gedicht “Gewaltmarsch” wurde in der Tasche seiner Häftlingskleidung gefunden, nachdem man die Opfer des Gewaltmarsches der Häftlinge aus dem Lager Heidenau, die in Bor erschossen wurden, ausgrub. Auch Franz Fühmann hat dieses Gedicht schon eindrucksvoll übersetzt – aber dabei gingen wohl die sexuellen Konnotationen verloren, die Radnotí mit seinem Bild von Zuhause verband. Deswegen steht auch die preisgekrönte Übersetzung von Markus Bieler mit dabei. Aber genau das zeigt auch, mit welchem dichten Stoff Übersetzer es zu tun bekommen, wenn sie tatsächlich die Texte richtiger Dichter vor sich haben. Und Radnotí gehört zu den besten Dichtern der ungarischen Sprache.

Dabei haben auch Dichterinnen und Dichter immer wieder Neuland zu besiedeln. So wie Lea Goldberg, die sich – im jungen Staat Israel – erst das neu zur Staatssprache erhobene Hebräisch erobern musste als Sprache ihrer Dichtung. Oder Khadi Fall, die im modernen Senegal eigentlich vor der selben Frage steht. Denn auch die neuen Machthaber im Senegal haben die alte Sprache der Kolonialherren – Französisch – als Amts- und Staatssprache beibehalten. Was dann auch für Presse und Literatur das Primat des Französischen bedeutet, obwohl es eine belastete Sprache ist – was dann im “Kommentar” zu Khadi Falls Text noch deutlicher wird: Wie gehen Dichter damit um? Was macht Sprache mit einem Land, wenn die Sprache selbst Symbol der Unterdrückung ist? – Ein Aufenthalt in den USA ermutigte Khadi Fall zum konsequentesten aller Schritte: Sie schreibt nicht mehr auf Französisch, sondern in der Sprache ihres Volkes – Wolof.

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Vom Verreisen in Versen
Brigitte Rath, Slavka Porubska, Leipziger Literaturverlag 2013, 29,95 Euro

Gedichte sind in vielerlei Zusammenhängen immer auch Vergewisserung, Verortung. Und das bedeutet immer Suche, Bewegung, Veränderung – Reise im großen und kleinen. Womit die Autorinnen und Autoren dieses Bandes natürlich etwas Wesentliches, was Gedichte ausmacht, thematisiert haben: denn “Verreisen in Versen” bedeutet eher nicht An-den-Strand-Fahren, sondern auf eine Expedition gehen, suchen nach dem, was wichtig und sagbar ist. Kleine, komprimierte Reiseerzählungen aus einer Welt, in der auf den ersten Blick alles ganz simpel aussieht – aber wenn man dann genauer hinschaut, dann kann man ganze Essays zu scheinbar ganz harmlosen Versen schreiben.

Wie hier geschehen. Und die Kommentatoren machen noch eins sichtbar: Dass gute Gedichtbände so einen “Anhang” aus Kommentaren ganz gut vertragen könnten. Sie eröffnen dem Leser oft Welten, die er so noch nicht kannte. Und sie zeigen, was gute Übersetzer zumindest wissen und ahnen sollten, wenn sie übersetzen. Deswegen werden einige Autorinnen und Autoren der Weltliteratur immer wieder neu übersetzt. Die Kinder und Enkel sehen meistens noch mehr als die Zeitgenossen. Dürfen oft auch noch mehr sehen, weil sie in den Verfänglichkeiten der Zeit nicht (mehr) verfangen sind.

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