Der in La Jolla lebende und durch seine Detektivgeschichten bekannte Autor Raymond Chandler (124) hat seinen ersten Roman vorgelegt. "The Big Sleep" heißt er und handelt von einem etwas raubeinigen Privatdetektiv namens Philip Marlowe ... Hat er natürlich nicht. Seit 1959 träumt Chandler selbst den Großen Schlaf, auch wenn die Liebhaber seiner Romane am liebsten jeden Tag in die Buchhandlung streunen würden, um so beiläufig zu fragen: "Ist ein neuer Marlowe reingekommen?" - Ist er natürlich nicht. Marlowe-Anhänger darben. Dafür gibt's jetzt ein Trostbuch.
Wer sein Diogenes-Exemplar von „Der Große Schlaf“ in der Übersetzung von Gunar Ortlepp von 1974 schon zerfleddert hat beim 81. Lesen, der wird hier seine 82. Gelegenheit haben, dem etwas groß geratenen Marlowe auf das Anwesen von General Sternwood zu folgen und dessen zwei wirklich reizende Töchter kennenzulernen.
Was wie eine kleine Erpressungsgeschichte anfängt, entpuppt sich ja dann bekanntlich als ein für Marlowes Leber gar nicht so gesundes Vergnügen mit mehreren Toten, ein paar verschnupften Bullen, etlichen smarten Ganoven und einem tiefen Blick in die Welt der Reichen und Schönen. Die so wenig anzufangen wissen mit all ihrem Reichtum, dass ihnen eigentlich nur noch der Abstieg in die Hölle bleibt.
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Das ist wohl das, was bei Chandler bis heute am meisten fasziniert: Dieser tiefe, illusionslose Blick in die Welt der verschlossenen Villen, der heute so modern wirkt wie 1939. Was Marlowe dort findet, ist die Sinnlosigkeit des Reichtums, die Langeweile des Abgeschottetsein, der protzigen Selbst-Ghettoisierung, der in Alkohol ersäufte Frust. Und zwei Gören, die mit ihrem Leben nichts anzufangen wissen.
Die Edition Büchergilde hat den „Großen Schlaf“ jetzt von Thomas Müller illustrieren lassen, Leiter der Klasse Illustration an der HGB. Einer der einprägsamsten Illustratoren der Gegenwart.
Ihm liegt das Atmosphärische. Wer Chandler liest, hat es vor Augen. Chandler schreibt plastisch, man riecht und schmeckt mit Marlowe die verkommene Welt hinter den bunten Kulissen Hollywoods. Die Bilder sind natürlich überlagert, spätestens seit der Verfilmung durch Howard Hawks 1946 mit Humphrey Bogart.
Der Detektiv mit seinem whiskeytrockenen Humor ist zum Typus geworden. Die Filmbilder überlagern die Realität. Und deformieren sie wieder. Aber selbst das wusste Chandler schon.
Sein Marlowe runzelt mehrmals die Stirn über den Ganovenstil der kleinen Gangster, denen er begegnet, den sie aus den Gangsterfilmen Hollywoods kopiert zu haben scheinen. Wie sehr färben eigentlich heutige Hollywood-Schinken ab auf eine Welt, in der das Schmierige geradezu zur Voraussetzung wird, überhaupt medial noch als Typus erkannt zu werden?
Mit Cosima Schneider, die seit 2012 Herstellungsleiterin der Edition Büchergilde ist, hat Müller so etwas wie eine komplexe Kollektivarbeit geschaffen. Seine Illustrationen sind als Doppelseiten im Buch – sie öffnen dem Leser den Blick in die verschiedenen Schauplätze, an denen Marlowe agiert.
Beim Umblättern scheint man einen Schritt im Raum zu tun und sieht dann den anderen Teil der Geschehnisse. Das Bühnenbild wird dadurch erst komplett. Mal ist es ein völlig weggetretenes junges Mädchen im Eva-Kostüm, das da auftaucht beim Blättern, mal eine dramatisch grinsende Leiche. Es ist ein wenig wie großes Kino in einem Roman, der selber großes Kino ist.
„Die Illustrationen sind Pinselzeichnungen, digital koloriert“, erklärt Müller die Technik noch ganz kurz. Was dann beim Druck ein paar kluge Erfindungen brauchte. Cosima Schneider: „Was Thomas Müller ganz wichtig war: Er möchte, dass die Bilder ‘speckig’ wirken – wir drucken aber auf offenes Werkdruck-Papier. Unsere Litho hat es aber geschafft, die Bilder so zu bearbeiten, als ob sie auf gestrichenem Papier gedruckt worden seien.
Um diesen Effekt hervorzuheben, werden die Abbildungen noch mit einer Lackschicht überzogen. So entsteht ein schöner Kontrast zwischen Text- und Bildseiten.“ Und so wirken die Bilder dann auch. Man hat schon beim Anschauen so ein schön schmieriges Gefühl. Fast sucht man noch den Mousepfeil, um sich reinzuklicken in die Szene und mit Marlowe die nächste Leiche aufzustöbern.
Der große Schlaf
Raymond Chandler, Edition Büchergilde 2013, 24,95 Euro
Das Buch soll mit Lust gelesen werden. Und selbst das Silberpapier im Vorsatz darf irritieren. Soll es auch, denn Philip Marlowe säuft ja nicht nur aus lauter Frust, er raucht auch wie ein Schlot. So sieht man ihn auch in Müllers Illustrationen.
Was man aber noch nicht sah, ist ein Buch, in dem das Silberpapier aus den üblichen Zigarettenschachteln als Vorsatzpapier verwendet wurde. Die Edition Büchergilde hat’s getan – und lässt das Papier extra herstellen. Das Ergebnis ist ein Buch für abgebrühte Leser.
Satt bis zum Umschlag mit der Atmosphäre der 1930er Jahre gefüllt. Etwas, was sich ein Autor immer wünscht – beispielsweise als Geburtstagsgeschenk. Und das ist es auch: Am 23. Juli wäre Raymond Chandler 125 Jahre alt geworden.
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