Einen "leeren Himmel" entdeckte die "Süddeutsche" am 31. März doch tatsächlich in Ostdeutschland, während der "Spiegel" einmal dankenswerter Weise nicht mit einem biblischen Thema die Osterausgabe beschwerte. Erschreckend niedrig fand Cornelius Pollmer die Zahl der Kirchenmitglieder im Gebiet der einstigen DDR, erschreckend hoch die der "strengen Atheisten" von 46,1 Prozent.

Er berief sich da auf eine Studie der Universität Chicago aus dem vergangenen Jahr. Aber wer sich allein den Wikipedia-Artikel zum Stichwort Atheismus zu Gemüte führt, merkt, wie diffus dieses Feld ist, wie krass die diversen Erhebungen voneinander abweichen. Denn wenn jemand nicht Mitglied einer der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland ist, heißt das noch lange nicht, dass er ungläubig ist, keine religiösen oder Gottesvorstellungen oder gar völlig andere Werte- und Moralansichten hat.

Man kann natürlich immer wieder erzählen, dass sich ja zwei Gesellschaftsordnungen im Osten bemüht haben, die Bürger zu Atheisten zu machen – die erste freilich mit krassem Misserfolg, die auch erklärtermaßen atheistische DDR dann mit sehr viel mehr Nachdruck und Erfolg. Was freilich nicht verhinderte, dass religiöse Kulte durch neue Kultformen ersetzt wurden. Was auch mit dem byzantinisch fundierten Stalinismus zu tun hat.

Aber auch das ist eine Verengung der Erzählung, denn die Zahl der Kirchenmitgliedschaften ist in Deutschland schon seit dem 19. Jahrhundert rückläufig. Und daran sind nicht die “ungläubigen Roten” schuld, sondern es war ein Machtmensch wie Otto von Bismarck, der dieses als “Kulturkampf” bezeichnete Phänomen forcierte und in Deutschland unter anderem die strikte Trennung von Staat und Kirche und damit auch von Kirche und Schule durchsetzte.

Seitdem haben die beiden Kirchen nicht mehr den direkten Zugriff auf die Lehrinhalte in den Schulen. Die Wahl zwischen Religionsunterricht und Gesellschaftskunde steht den Kindern und/ oder deren Eltern, die das oft noch bestimmen, frei.

Wie gläubig oder atheistisch die Ostdeutschen mittlerweile sind, müsste eigentlich in eigenen Studien erfasst werden, die auch mit den sehr platten und sehr dummen Fragen aufhören “Gehörst du einer Kirche an?” oder “Glaubst du an Gott?”

Da lohnt ein Blick nach Rom und all den ratlosen Erklärungsversuchen deutscher Medien (ja, ja: die üblichen Leidmedien, wer denn sonst?) um das, was der gerade neu gewählte Papst Franziskus alias Jorge Mario Bergoglio aus Argentinien gerade tut. Für die reformorientierten deutschen Kardinale endlich eine Hoffnung, dass sich auch die katholische Kirche den Veränderungen der Welt öffnet. Und die Welt hat sich längst verändert, nicht nur Ostdeutschland.

Und noch einmal: Hinter dem, was ein paar Zeitgenossen immer wieder diesen schrecklichen ungläubigen Kommunisten anlasten, stecken ganz andere Prozesse. Für die Kommunisten war das rigide Vorgehen gegen die Kirche auch der Versuch einer gewaltsamen Modernisierung des Landes. Der Staatssozialismus aber war nur eine Form der forcierten Säkularisierung heutiger Gesellschaften.

Die andere Form, die schon viel länger wirksam ist, macht damit auch ohne Kommunisten einfach weiter. Sie heißt übrigens Kapitalismus. Und Gläubige im religiösen Sinn braucht diese Gesellschaft auch nicht – aber sie braucht Leute, die ihre Erfüllung in einer wilden Jagd auf einen Fetisch suchen: der Fetisch heißt Produkt, die neue Religion Konsum.

Und das deutet sich zwar an bei einem bärtigen Kauz namens Marx, ist aber längst Realität. Wie sehr, das steht sehr beeindruckend in einem Buch Leipziger Forscher, das wir in den nächsten Tagen an dieser Stelle besprechen.Auch in der katholischen Kirche gibt es längst jüngere Priester, die sich sehr intensiv Gedanken machen darum, welche Rolle Kirche eigentlich in dieser sich immer weiter säkularisierenden Gesellschaft spielt und spielen kann. In beiden Kirchen geht die Sorge um.

Es geht ihnen ein bisschen wie den Papierzeitungen – ihnen kommen die Abonnenten abhanden. Die Zahlen für Sachsen: Seit 1995 sank die Zahl der Mitglieder der Evangelischen Kirche von 1.168.392 auf 829.614 (2011). Offiziell von 25,6 Prozent auf 20,1. Die Zahl der katholischen Kirchenmitglieder sank von 189.449 auf er 148.253, von 4,1 auf 3,6 Prozent also. Die sächsischen Landessstatistiker haben die Kirchen übrigens nicht unter Soziales eingeordnet (wo man sie vermutet hätte), sondern unter Kultur.

Kann man natürlich fragen: Ist Religion nun Kultur? – Falsch ist es nicht. Aber nur dann, wenn man Kultur größer denkt und nicht nur auf die Künste beschränkt, die damit gemeint sind.

Und einige Pfarrer sind sich sehr wohl bewusst, dass ihre Kirche sich ändern muss, dass man, wenn man eine Rolle in einer vom Konsum- und Leistungsdruck dominierten Welt spielen will, wieder werden muss, was auf Seite 11 in diesem kleinen Buch von Kurt Schulte sinnfällig ins Bild gesetzt wurde: ein Anker.

Schulte, 1965 geboren, ist seit 1996 Pfarrer und wirkt seit 2011 als Dompfarrer am St.-Paulus-Dom in Münster. Das Büchlein, das er hier vorlegt, ist mittlerweile eines aus einer ganzen Serie von Büchern des St.-Benno-Verlages, die sich mit der Nachwuchsgewinnung, einem neuen Selbstbild, neuer Motivation für den Eintritt in die Kirche beschäftigen.

Schulte versucht es einfach mal auf zehn gute Gründe zu bringen, die aus seiner Sicht den Weg in die Kirche als gut und sinnvoll erscheinen lassen – von den Sakramenten über das Gemeinschaftsgefühl über die Caritas bis hin zur Bewahrung einer nun wirklich eindrucksvollen Kultur.

Auch Leipzig-Besucher nennen gleich nach dem Völkerschlachtdenkmal die beiden berühmten Kirchen der Stadt als Attraktion – St. Thomas und St. Nikolai. Letztere ja auch berühmt für ihre Rolle in der Friedlichen Revolution und vor allem in den harten zehn Jahren davor – als Zufluchtstätte für jede Art widerständigen Denkens in der DDR.

Was schon mal ein Punkt ist, der in den jetzigen deutschen Kirchen eher unter “ferner liefen” kommt, in der Kirche, mit der Papst Franziskus zu tun hatte, der südamerikanischen Befreiungskirche, aber ganz oben stand und steht. Da war es vielen Priestern nämlich nicht selbstverständlich, sich auf die Seite der Mächtigen zu stellen. Sie haben das christliche Ideal der Barmherzigkeit viel höher geschätzt und haben nicht gewartet, bis die Armen zu ihnen kamen, sondern sind zu den Armen gegangen.

Was die südamerikanischen Priester oft zu einem elementaren Teil der Befreiungsbewegungen machte. Ein paar Pfarrer in der DDR fühlten sich dieser Bewegung sehr verbunden. Aber zurück zum Anker, den Schulte anders versteht, nämlich als “Bewahrung des Glaubens”. Das aber ist eine theologische Interpretation. Und eine Verengung. Denn in der christlichen Symbolik steht er auch für Hoffnung, einen sicheren Hafen, Schutz gegen die Stürme der Zeit.

Mal so ganz frech zitiert aus einem wirklich eindrucksvollen Buch des St. Benno Verlages: “Das Bilderlexikon der christlichen Symbole” von Eckhard Bieger. Was zumindest ahnen lässt, welche Rolle die Kirche, die Gemeinschaft, das Kirchenschiff für Gläubige über die letzten 20 Jahrhunderte eigentlich gespielt hat. Nicht als Hort des Bewahrens, sondern als Ort des Schutzes, der Einkehr, des Geborgenseins.

Denn wenn die gesellschaftlichen Umbrüche immer schneller aufeinanderfolgen, die Krisen gar nicht mehr abebben und der Druck der Märkte die Taktgeschwindigkeiten immer weiter erhöht, dann machen sich natürlich die Verluste bemerkbar. Hohe Scheidungsraten, niedrige Geburtenraten, hohe Single-Raten, zunehmende Burn-out-Syndrome, ein Abschmelzen der als stabil geglaubten “Mittelschicht”, zunehmend mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse … all das hat Folgen für eine Gesellschaft. Für die Renditen der großen Konzerne ist es gut. Aber die Menschen leiden darunter. Und viele verlieren dabei Halt und Orientierung. Darüber erzählen Sucht- und Kriminalitätsberichte.

Und die aufmerksamen Priester wissen es zumindest, dass auch hinter den Sakramenten keine starren Dogmen stehen (sollten), sondern menschliche Hoffnungen. Bis hin zum Sakrament der Ehe, das Schulte sehr schön beschreibt: “In der Ehe sagt er den Eheleuten seine Weggefährtenschaft zu. Denn wo die Liebe ist, da ist Gott. Wo Menschen lieben, ist Gott gegenwärtig.”

Da ist also kein Zwang. Darf auch keiner sein. Liebe lässt sich nicht erzwingen, nur schenken. Auch Worte wie Gemeinschaft, Trost und Zuhause tauchen bei Schulte auf. Kirche könnte ein Gegenpol sein gegen das Rasen der Zeit, ein Ort des Herausgenommenseins aus den Zwängen, vielleicht auch ein Gegenentwurf: Geht menschliche Gesellschaft nicht auch anders zu gestalten als mit diesem ganzen Befriedigungsersatz eines rasend gewordenen Konsums?

Denn Fakt ist: Nicht die Kommunisten haben den Sonntag zum Abschuss freigegeben. Es waren die Narren der Gegenwart, die glauben, auch am siebenten Tag der Woche müsste der Konsum nicht ruhen. Womit sich der Gott Konsum sichtbar über den Gott der Kirche erhebt. Das verstehen auch eingefleischte Atheisten nicht wirklich. Die vielleicht nicht an einen Gott glauben (und bei diesem wilden Toben der Märkte vielleicht auch gar nicht mehr glauben können, selbst wenn sie wollten), die aber dennoch wissen, dass eine menschliche Gemeinschaft Schutzräume und Schutzzeiten braucht, Zeiten und Orte des Besinnens, des Korrigierens, des Verschontseins.

Es gibt eine Menge Ansätze, über die Rolle von Kirche im 21. Jahrhunderts (neu) nachzudenken. Und wenn es die deutschen Kirchdeuter wieder nicht schaffen, weil ihnen die alten Rituale wichtiger sind, dann wird die Veränderung eben aus Lateinamerika kommen – künftig vielleicht sogar aus Afrika.

“Gott will mich satt machen”, schreibt Schulte, “lebenssatt!” Na denn mal auf die Socken, kann man da nur sagen. Oder mit Schultes Euphorie: “Wenn viele kleine Menschen viele kleine Schritte tun, dann ist das der Beginn einer neuen Wirklichkeit! Wenn nicht ich, wer dann?”

Gute Frage.

Kurt Schulte “10 gute Gründe für die Kirche”, mit PVC-Anhänger, St. Benno Verlag, Leipzig 2013, 6,95 Euro

Der Beitrag der “Süddeutschen”: “Unter leerem Himmel”: www.sueddeutsche.de/panorama/glauben-in-ostdeutschland-unter-leerem-himmel-1.1636577

Atheismus in der englischsprachigen Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Atheism

Wikipedia zum Kulturkampf: http://de.wikipedia.org/wiki/Kulturkampf

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