Nicht nur im Leipziger Literaturverlag tauchen Autoren auf, die man eigentlich kennen sollte, die aber auf dem deutschen Buchmarkt nicht wirklich vertreten sind. Charles Reznikoff ist so einer. Der Blick in die deutsche Wikipedia irritiert. Der Beitrag ist kurz und augenscheinlich auch falsch. Da hat der Autor nicht mal den Blick in die englischsprachige Wikipedia gewagt. Mit James Joyce hat das, was Reznikoff schrieb, nichts zu tun. Und Geschichte hat er auch nicht studiert, sondern kurzzeitig Journalismus. Doch das war ihm zu schnelllebig.
Die englischsprachige Wikipedia ist da schon genauer. Sie rechnet den am 31. August 1894 in Brooklyn Geborenen der “Zweiten Generation der modernistischen Dichter” zu, die sich insbesondere auszeichnen durch “sincerity and objectivation”, also in etwa “Ernsthaftigkeit und Versachlichung”. Womit sie in die Nachbarschaft der amerikanischen Moderne kommen, von Prosa-Autoren also wie John Dos Passos.
Wer Reznikoff in deutschsprachigen Katalogen sucht, findet vielleicht den 2001 im Europa Verlag Hamburg erschienenen Band “Paul Auster entdeckt Charles Reznikoff”. Aber auch die Amerikaner taten sich schwer mit Reznikoff. Wie sie sich eigentlich mit allem schwer tun bis heute, was nicht den “American Way of Life” als breite Straße ins Paradies preist. Das ging auch Herman Melville so. Der “Amerikanische Traum” war schon vor über hundert Jahren angekratzt. Und wenn wir heute über “Globalisierung” und “Liberalisierung” reden, dann reden wir über Dinge, die schon am Ende des 19. Jahrhunderts “God’s own Country” zerrissen.Deswegen sind die USA auch das Land der großen Illusionsmaschinen. Hätte es Hollywood nicht gegeben, hätte es ein gewiefter Marketing-Mann erfinden müssen. Man muss den Leuten nur immerfort in kolorierter Wucht erzählen, im besten aller Länder zu leben, dann glauben sie es auch irgendwann, egal, wie rabiat es in ihrer eigenen Umgebung zugeht.
Jura studierte Reznikoff dann tatsächlich zu Ende, praktizierte aber nur kurz als Anwalt. Der in Münster lebende Ãœbersetzer, Anglist, Germanist und Philosoph Georg Deggerich erzählt in einem kurzen prägnanten Vorwort, was Reznikoff so sehr von den meisten Lyrikern seines Landes unterschied. Denn eines hat ihm das Jura-Studium für seine Wortarbeit gebracht: das Wissen um eine Genauigkeit der Sprache. Ein falsches Wort, eine falsche Wendung – und ein ganzer Prozess geht verloren. Wer juristische Schriftstücke verfasst, tanzt auf ganz dünnem Seil.
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Wer Literatur schreiben will, eigentlich auch. Nur glauben die meisten Autoren, dass man nur möglichst viele Worte und Sätze hinschleudern muss, dann ist das schon Kunst. Ist es aber nicht. Aber wie viel Illusionen machen sich eigentlich die meisten Autoren über das, was sie tun? – Reznikoff, als Sohn russischer Juden, die vor den zaristischen Pogromen aus Russland in die USA geflohen waren, wuchs im jüdischen Ghetto Brownswill in Brooklyn auf und lernte als Jude auch die antisemitischen Ressentiments seiner Heimat kennen. Er wusste also sehr wohl, was alles unter der vergoldeten Fassade der USA brodelte.
Als Anwalt – und ab den 1930er Jahren, als er als Mitarbeiter von “Corpus Juris”, einer Enzyklopädie für Juristen, arbeitete – lernte er diese Wirklichkeit noch genauer kennen. Für die Enzyklopädie arbeitete er tausende Prozessakten durch. Vor Gericht ist eine Gesellschaft nackt. Zumindest all jene sind es, die sich keine teuren Anwälte leisten können, um zu dealen und die Sache in ihrem Sinne “hinzubiegen”. Hier werden die ganzen Dramen aufgeblättert, aus denen die Leben im unteren Drittel der Gesellschaft bestehen. Ein Stoff, der für Reznikoff zum Material seines literarischen Großprojektes “Testimony: The United States 1885 – 1915” wurde. Er anonymisierte die Fälle, dampfte sie auf das Wesentliche ein, reduzierte sie auf ihren sachlichen Kern. Das Ergebnis war wohl eines der ernüchterndsten Bücher über die Vereinigten Staaten, die je erschienen. Ernüchternd auch, weil Reznikoff aus diesem Stoff zwar Gedichte presste, auf eine moralische Wertung aber vollkommen verzichtete. Ganz Jurist, als der er sich wohl auch als Dichter noch fühlte.Und genauso machte er sich auch an die Arbeit für seinen 1975 erschienenen Gedichtband “Holocaust”. Er nutzte die Akten der Nürnberger Prozesse und auch des Eichmann-Prozesses. Hier sind die Schilderungen von Vielen enthalten, die den Völkermord der Nationalsozialisten gegen die Juden Europas überlebt hatten. Das, was dann Holocaust oder Shoah genannt wurde. Und auch hier verzichtet Reznikoff auf Namen, begibt sich in seiner Erzählweise eher auf die biblische Ebene und spricht von einem Mann, einem Mädchen, den Juden. Dadurch aber, dass er seine Figuren anonymisiert, verdichtet sich die Erzählung, wird auf das Wesentliche reduziert. Und der Leser merkt, wie Gedichte eigentlich funktionieren. Es ist derselbe Stoff, wie er in den Zeugenaussagen der Prozesse zu finden ist. Doch da der Autor moralisch auch hier nicht wertet, sprechen die Vorgänge für sich, stehen die Mörder grell im Licht. Mörder, von denen wir heute wissen, dass die meisten straflos davongekommen sind. Sie haben zwar jeden Toten gezählt, jede Gasrechnung aufgehoben – aber sie haben den Toten nicht die Täter zugeordnet.
Und in der Verdichtung wird konturenscharf, was es eigentlich bedeutet, systematisch 5,6 bis 6,3 Millionen Menschen zu ermorden. Erst zu entrechten, dann einzusammeln und in Eisenbahnwaggons zusammenpfercht in die Vernichtungslager zu transportieren, Alte und Junge, Männer und Frauen, Greise und Kinder. Und manchmal verdingten sich die Amtsträger in den heimgesuchten Ländern selbst als Diener der Mörder – manchmal aber bewiesen die Eroberten Mut und brachten ihre jüdischen Mitbürger mit Booten in Sicherheit, so, wie es die Dänen taten.
Die Dichte der Erzählungen in Reznikoffs Poem erschütterte auch 1975 noch die USA. Vielleicht auch, weil die Wucht der Bilder auch 30 Jahre nach Kriegsende nicht nachgelassen hatte. Dazu kommt bei Reznikoff eben auch die Wirkung der Anonymisierung seiner Gestalten: Ihr Leiden wird dadurch nicht nur allgemeingültig. Die Dichte der Schilderungen zieht den Leser auch in den Bann und er stellt sich dabei zwangsläufig die Frage, wie er sich selbst verhalten hätte. Ob er das ausgehalten hätte.
Holocaust
Charles Reznikoff, Leipziger Literaturverlag 2013, 19,95 Euro
Er ist mittendrin in dieser Vernichtungsmaschinerie, sieht Frauen und Kinder sterben und sieht die Peiniger in SS-Uniform das Morden und Schinden auch noch genießen. Es sind ja die wenigen gerade noch Entkommenen, die da erzählen, eine Handvoll von Tausenden. Die anderen wurden in die Gaskammern und Vergasungswagen getrieben, verhungerten, verdursteten, erstickten schon in den Zügen, mussten ihre eigenen Gräber ausheben und mussten sich nackt hinstellen, wohin die Todesschützen sie zwangen.
Und das Frappierende ist: In der sachlichen Dichte, in der Reznikoff das zum Poem verdichtet hat, wirkt es noch bedrückender. Er braucht keine moralische Wertung mehr. Die Leser werden selbst zu Geschworenen. Sie erfahren alles, was sie wissen müssen, um sich selbst ein Urteil zu bilden.
Eigentlich höchste Zeit, dass dieser Gedichtband jetzt auf Deutsch vorliegt. Ein Stachel im Fleisch. Auch für all jene, die immer so gern wieder zur Tagesordnung übergehen wollen.
www.leipzigerliteraturverlag.de
Charles Reznikoff in der englischsprachigen Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Charles_Reznikoff
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