Das Neuseenland ist faszinierend. Und es ist einzigartig. Wo noch vor 20 Jahren die Kettenbagger lärmten, nachts Flutlichter den Horizont zum Glühen brachten und zügeweise die Braunkohle in die Kokereien, Brikettfabriken und Kraftwerke gefahren wurde, leuchtet heute an Sonnentagen ein blauer Himmel über blauen Paradiesen. Das Paradies ist menschgemacht.
Über 100 Jahre lang wurde hier die Braunkohle in riesigen Tagebauen aus der Erde geholt. Auch sie ein Schatz, wie die Autoren nicht müde werden zu betonen. Denn ohne die Kohle hätte es die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts nicht gegeben, nicht den reichen Industriestandort Sachsen im 20. Jahrhundert und auch keine Energie in den Zeiten der Not – sprich im und nach dem 2. Weltkrieg. In mehreren großen Bildbänden hat Lothar Eißmann die Verwandlung dieser Landschaft, die die Region um Leipzig Jahrzehnte lang geprägt hat, geschildert und gezeigt. “Die Erde hat ein Gedächtnis”, “Metamorphose einer Landschaft” und “Die aufgehenden Seen im Süden Leipzigs” heißen sie.
Prof. Dr. rer. nat. Lothar Eißmann (80) war Professor für Geologie an der Universität Leipzig, ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und hat die Bergbauentwicklung in Mitteldeutschland seit Jahrzehnten aufmerksam verfolgt. Mit wissenschaftlicher Begeisterung. Denn was die Bagger mit der mitteldeutschen Landschaft anstellten, ist für die Landschaft zwar eine Katastrophe – für Wissenschaftler aber ein einmaliger Glücksfall, denn wo systematisch über viele Quadratkilometer hinweg die Böden abgetragen werden und bis hinunter zu den Schichten des Tertiärs alle Erdschichten aufgerissen werden, da tun sich Zeitfenster auf, wie sie andernorts nicht sichtbar sind. Und das ist nicht nur für Geologen ein faszinierendes Forschungsfeld, die in den Tagebauen Mitteldeutschland das ganze Wechselspiel von Gebirgsbildung, Absenkung, Meerbildung, Eis- und Zwischeneiszeit studieren konnten.
Es ist auch ein Glücksfall für Paläontologen und Archäologen. Letztere fanden im Aufschluss des Tagebaus Zwenkau die ältesten Siedlungsspuren mit über 7.000 Jahre alten Holzbauten und Brunnen. Der Markkleeberger Raum wurde berühmt für seine eiszeitlichen Funde menschlicher Tätigkeit. Auch die Tierwelt dieser Zeit ist über reiche Knochenfunde belegt. Und wenn die Bagger abrücken und die Tagebaue sich selbst überlassen werden, kommt nicht nur das Wasser zurück. Es beginnen auch Pflanzen und Tiere das Neuland wieder zu besiedeln, neue Biotope entstehen, die dann die Biologen in ihren Bann ziehen.Eißmann ist sich der widerstreitenden Gefühle durchaus bewusst, mahnt auch immer wieder, wie wichtig doch die im Untergrund lagernde Energie ist – vielleicht für künftige Generationen, für die die liegen gebliebenen Flöze vielleicht die letzte Reserve sind. Der Tagebau Cospuden etwa sollte ja noch viel weiter auf das Leipziger Stadtgebiet zugeführt werden. Auch unter Leipzig liegt Braunkohle. Der Auwald war schon bis aufs Stadtgebiet gefällt, als die Bürger 1990 ein Ende des Tagebaus erstritten. Und damit jene Zeitenwende, die überhaupt erst die Entstehung des heutigen Neuseenlandes ermöglichte. Denn vollgelaufen wären die Tagebaurestlöcher auch unter den alten Bedingungen.
Das bekannteste Beispiel ist der Kulkwitzer See, der sich schon in DDR-Zeiten zur Leipziger Badewanne entwickelte. Doch bei den neuen Seen im Leipziger Süden wurde Vieles forciert, wurde Wasser zugepumpt, damit der angestrebte Wasserspiegel um Jahrzehnte früher erreicht wurde. In Böschungsabflachungen, Strände und Infrastrukturen wurde investiert. Binnen weniger Jahre entstand eine beeindruckende Seenlandschaft.
Das große Buch zum Ende einer Ära: Die Braunkohlenindustrie in Mitteldeutschland
Es ist nicht nur für den Geowissenschaftler …
Ein dickes Buch über ein verschwundenes Dorf im Leipziger Südraum: Eythra
Verdient hat es jedes einzelne der vielen …
Millionen Jahre Geschichte zum Entdecken: Auf der Straße der Braunkohle
Er ist der wohl profundeste Kenner …
Die vierte Seengeneration, wie Eißmann schreibt, der den Leser nicht ohne Vorinformationen lässt. Man merkt, dass es ihm wichtig ist, die “ganze Geschichte” zu erzählen, wie sie mit dem Aufschluss der Tagebaue sichtbar wurde – angefangen bei der Nordsee.
Denn was die Bagger direkt über den Kohleflözen frei legten, waren die gewaltigen Dünen eines Meeres, dessen Küsten und Strände einst genau da lagen, wo sich heute die Leipziger am Wasser bräunen lassen. Nur ein paar Meter tiefer. Unter diesen gewaltigen Dünen liegen die einstigen Moore der Kreidezeit begraben – zur Kohle gepresst. Darüber aber stapeln sich die geologischen Schichten dicht an dicht, haben die Geologen die Flusstäler uralter Flüsse gefunden, die Artefakte von Menschen, die sich bis hierher vorgewagt hatten – aber auch die wechselnden Ablagerungen der Eiszeiten und Zwischeneiszeiten – selbst die Sedimente der diversen Seen, die nach jedem Rückzug der Gletscher entstanden, fanden sie.
Und Eißmann erinnert den Leser beiläufig daran, dass die heutigen Landschaftsformen – erdgeschichtlich betrachtet – auch sehr jung sind. Die letzte Eiszeit ging vor 10.000 Jahren zu Ende. Sie hat die Seen der 3. Generation zurückgelassen, zu denen die Gewässer der Mecklenburger Seenplatte gehören, die manchem heute Vorbild ist für das, was im Neuseenland passiert. Wenige hundert Jahre, so Eißmann, und die Bewohner der Region sehen keinen Unterschiede mehr zwischen den künstlich geschaffenen Seen der 4. Generation und denen der 3.Er denkt in größeren Zeiträumen. Er lässt auch die Verluste nicht weg. Denn als sich im letzten Jahrhundert die Kohlebagger durch die Landschaft fraßen, löschten sie auch einen ganzen Kulturraum aus. “Tabula rasa oder die Verlorenen Orte” nennt Eißmann ein Kapitel, in dem er alle Orte und Ortsteile auflistet, die seit 1928 vom Erdboden verschwanden – Rusendorf mit 150 Einwohnern war damals das erste Dorf, das “devastiert” wurde, Heuersdorf 2008 das vorerst letzte. Aber auch Pödelwitz, das mit seinen 130 Einwohnern dem Bagger weichen soll, steht am Ende der Liste – 2018 soll es verschwunden sein. Rund 100 Orte hat der Bergbau in Mitteldeutschland verschlungen. Mitsamt einer einst einmaligen Auenlandschaft. Denn das Auwaldsystem hörte ja nicht einfach hinter Connewitz auf – es zog sich zwischen Pleiße und Weißer Elster weit hinauf bis nach Thüringen. Das war einmal eines der beliebtesten Ausflugsgebiete der Leipziger.
Das wird es möglicherweise wieder. Dieses “möglicherweise” wird von der Frage bestimmt, wie nachhaltig diese Landschaft umgestaltet wird, ob das Beziehungsgefüge zwischen Seen, Ortschaften, Infrastruktur mit Leben erfüllt werden kann. Das Zeug dazu hat diese künstlich geschaffene Landschaft. Lothar Eißmann, und Frank W. Junge porträtieren nicht nur jeden See im Leipziger Südraum ausführlich, schildern seine bergbautechnische Entstehungsgeschichte und seine geologischen Besonderheiten – sie schildern auch die neu gewonnenen Potenziale: die touristischen Attraktionen, die entstanden sind, und die neuen Biotope, die teilweise einen neuen Artenreichtum ansässig gemacht haben. Immer wieder kommen ihre eigenen Exkursionserfahrungen aus Jahrzehnten des Bergbaus in Bild und Text, erzählen sie von den Bergbautechniken und den kleinen und großen geologischen Sensationen.
Und sie haben jeden einzelnen Abschnitt mit eindrucksvollen Fotos bebildert, die nicht nur zeigen, dass in der neuen Landschaft begnadete Fotografen unterwegs sind, sondern dass sie auch den Blick für das Besondere und Einmalige haben.
Es kommen alle großen Seen im Leipziger Südraum ins Bild, die großen Seen im Bergbaurevier Borna, die um Lucka, Altenburg und Meuselwitz, Zeitz und Profen. Eindrucksvolle Bilder aus der Zeit des Bergbaus stehen neben den Bildern der frühen Flutungen und denen des “fertigen” Sees, der seine Besucher mit grandioser Majestät empfängt. Und die Autoren öffnen auch den Blick auf die Frühzeit des mitteldeutschen Bergbaus, die einmal im Gebiet der Mulde begann. Seen, die wie verwunschene Waldseen erscheinen, sind tatsächlich die vollgelaufenen Kohlegruben des frühen 19. Jahrhunderts. Und weil das oft ineinander überging, die Kohle unter anderen wertvollen Rohstoffen lagerte, werden auch die Kiesseen, ertrunkenen Steingruben und Kaolingruben porträtiert, die in Teilen ebenso längst zum Badeparadies der Einheimischen geworden sind. Künstliche Teiche aller Art ergänzen das Bild. Oder besser: die Bilderflut.
Das Mitteldeutsche Seenland
Lothar Eißmann; Frank W. Junge, Sax-Verlag 2013, 39,80 Euro
Selbst wer sich in die Einzelheiten des Textes gerade nicht vertiefen mag, kann eintauchen in Bilder, die reineweg zum Schauen einladen, grandios wie fürchterlich, wenn der Blick des Fotografen in die offene Grube fällt, von Stille und Leben erfüllt, wenn die Löcher zu neuen Seen geworden sind. Im Anhang gibt es noch eine Übersicht über alle geschilderten Seen in tabellarischer Form.
Und im Mittelteil ein Gastbeitrag vom Gewässerverbund Leipziger Neuseenland. Der es in sich hat.
Dazu gleich mehr in einem eigenen Artikel.
Veranstaltungstipp: Am Mittwoch, 10. April, um 19:30 Uhr wird es im Literaturcafé im Haus des Buches (Gerichtsweg 28) eine Präsentation des neu erschienenen Bandes “Das Mitteldeutsche Seenland. Vom Wandel einer Landschaft. Der Süden” geben. Die Autoren werden im Rahmen einer Fotoschau Inhalt und Anliegen des geologisch fundierten, industriegeschichtlich, ökologisch wie touristisch interessanten Bildbandes zum Raum zwischen Leipzig und Altenburg, Wurzen, Zeitz und Merseburg beleuchten. Der Eintritt ist frei.
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