Da können sich andere Städte in der Welt alle Mühe geben, diese eine Stadt zu kopieren, das Beste und Aufregendste nachzumachen. Doch sie schaffen es nicht, Paris den Rang abzulaufen. Die Stadt ist ein Mythos, ein Faszinosum. Gerade auch deshalb, weil sie sich ständig verändert, aber das Alte trotzdem bewahrt. Wovon auch unser Klein-Paris etwas lernen könnte. Paris ist eine Stadt, die sich nie um den Titel Kulturhauptstadt bewerben müsste - auch wenn sie es 1989 mal war.
Sie ist es ganz selbstverständlich. Und sie macht vor, wie es geht – und dass das eben nicht nur mit teuer geförderten Theatern und Orchestern und Ausstellungszentren zu tun hat. Das gehört irgendwie dazu, schwebt aber eher wie ein kleines UFO-Geschwader über der nächtlich umtriebigen Stadt, in der sich “Kultur” ganz anders und irdischer definiert. Als Melange, als erlebbarer Raum mit Nischen und Rückzugsräumen. Und einer Unzahl von Orten, an denen Kultur greifbar wird – in berühmten Cafés und Cabarets, Ateliers und Hinterhöfen, Parks und Friedhöfen. Wer auf eigene Faust nach Paris fährt, braucht einen Plan. Zumindest eine klare Vorstellung davon, welchen Teil dieser ineinander verwobenen Kultur er oder sie erkunden will.
Und das Faible der Palucca-Schülerin, Bibliothekarin und Latinistin Gertraude Clemenz-Kirsch ist eindeutig das französische Chanson. Oder der Chanson. Im Französischen ist das Lied ja männlich. Auch wenn man bei Chanson keineswegs an die vergleichbaren deutschen Volksliedchen denkt, sondern an eine ganze Galerie begnadeter Sänger und Sängerinnen, die mit ihren Liedern ganzen Epochen einen unverwechselbaren Sound gegeben haben. Und weil sich in Frankreich fast alles mit Paris verbindet, lebten sie alle mal auch in der Stadt an der Seine – angefangen vom Ältesten unter den Berühmten, Francois Villon, dessen wilden Spuren Clemenz-Kirsch mit ihren ebenso neugierigen Begleiterinnen in Paris genauso begegnet, wie denen des berühmtesten Chansonniers des frühen 19. Jahrhunderts – Béranger. Und von dem führt die Linie der berühmten Sängerinnen und Sänger bis in die Gegenwart.
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Die Namen der Großen lassen sich auch im Straßenbild finden. Paris hat seine Künstler viel üppiger gewürdigt, als es in deutschen Städten üblich ist. Hinweistafeln erinnern an ehemaligen Wohnhäusern, an Cafés und kleinen Theatern an die Stars – an die Piaf, an Villon, an Aristide Bruant, an Juliette Gréco. Von den Friedhöfen ganz zu schweigen, wo die Lieblinge der Nation nicht nur attraktive Gräber haben, sondern auch von ihren Verehrern tagtäglich frische Blumen bekommen.
Und da es ein sehr persönliches Buch ist, versucht die Autorin auch gar nicht erst, den Lesern irgendein “Das müssen Sie gesehen haben” aufs Auge zu drücken. Mancher berühmte Ort ist heute nicht so ganz billig. Aber ein freundliches Personal ließ die neugierigen Forscherinnen auch mal ins Innere schauen, wo in der Regel die Erinnerungsstücke an die berühmten Gäste an der Wand hängen. Und nicht nur mit den Sängern pflegen die Pariser so ein enges Verhältnis. Wer seine Lieblingsschriftsteller und ihre Spuren in der Hauptstadt Frankreichs sucht, findet auch sie.Und auch hier folgte Gertraude Clemenz-Kirsch ihrer ganz persönlichen Liebe – findet die Erinnerungen an Boris Vian, Simone de Beauvoir und Sartre, an Gertrude Stein und Alice B. Toklas. Und man merkt, dass sie nicht nur ihre Bücher gelesen hat – manche wohl mehrfach. Sie hat sich auch mit den Biografien dieser Berühmtheiten beschäftigt, so dass sie auch die Orte mit den Leben verbinden kann, die sie hier sucht. Für den Leser ist es eine Reise in ein ganz besonderes Paris, das hier seinen ganzen Reichtum auftut. Gespickt mit Fotografien von Häusern, Straßen, Plätzen und vielen, vielen Schildern. Und wer die faszinierenden Menschen, denen die Autorin hier nachspürt, noch nicht kennt, bekommt trotzdem das Gefühl, als wäre er ihnen begegnet. Hätte an ihrer Haustür geklingelt, mit der Concierge palavert und dabei so nebenbei auch noch lauter keineswegs Unbekannte wie Jacques Prévert, Ernest Hemingway oder Pablo Picasso getroffen. Mal mit neuer Freundin, mal vom Schicksal gebeutelt.
Man lernt dabei Hinterhöfe und Gassen kennen, die sich beim genaueren Hinsehen als Schauplätze mittelalterlicher Eskapaden entpuppen oder als Brennpunkte der Revolution von 1789, das Quartier Latin ist sowieso zu einem Großteil Schauplatz dieser immer rumorenden Geschichte französischer Lebenslust, aufrührerischer Gedanken und der Suche nach einem Raum des Rückzugs mitten in einer Weltmetropole. Wer hat, der kann Kapitel für Kapitel, die oft so sentimental und schnoddrig anmutende Musik auflegen, die es auf Tonträgern zu kaufen gibt. Sie sind ja alle präsent, die Berühmten des französischen Chanson. Und irgendwie haben die großen Chansonniers ihr Paris auch immer besungen. In ihren Liedern lebt es, geht zu Herzen, lässt nicht los.
Süchtig nach Paris
Gertraude Clemenz-Kirsch, Dingsda-Verlag 2012, 29,90 Euro
Das hat noch keine andere Stadt so geschafft. Da kann es hunderte Kulturhauptstädte geben. Wirklich ist es immer nur diese eine. Die deshalb auch immer Sehnsuchts- und Asylort war für Künstler aus aller Welt, wenn sie nicht nur eine Zuflucht suchten, sondern auch Kontakt zur aktuellen Avantgarde. Deswegen ist Paris auch kein Museum und man muss dort nicht ins Museum gehen, um diese Seele der Stadt zu finden. Sie ist überall, und der beste Weg, ihr nachzuspüren, ist wohl genau der, den Gertraude Clemenz-Kirsch gewählt hat: Sich einfach mal eine richtige Auszeit zu nehmen, um Paris mit Kompass und Stadtplan und lauter leuchtenden Namen im Kopf zu erkunden. Die andere Variante wäre, ganz und gar hinzuziehen. Denn damit zu rechnen, dass andere Städte einmal so werden wie Paris, die Hoffnung kann man wohl begraben.
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