Am 23. März 1933 übergab das deutsche Parlament die Gesetzgebungskompetenz an die Regierung Hitler. Im Berlin des nahenden Frühjahrs 1933 beginnt der "Winter der Welt". Dieser Roman bildet Teil II der Familiensaga des Walisers Ken Follett. Die Zeit zwischen 1933 und 1949 markiert den dramatischen Höhepunkt des schrecklichen, kurzen 20. Jahrhunderts. Parlamentseröffnungen sind zumeist feierliche Veranstaltungen. Die frisch Gewählten vergewissern sich der Rechte, die ihnen die Wähler auf Zeit verliehen haben. Zuvorderst das Recht, die Regierung machtbeschränkend zu kontrollieren.
Am 23. März 1933 ist in Berlin alles anders. Der knapp drei Wochen zuvor gewählte Reichstag soll seine Selbstentmachtung beschließen. Was den Nationalsozialisten trotz Gewalt und Einschüchterung bei den Wahlen am 5. März 1933 nicht gelang, soll nun nachgeliefert werden: die Ermächtigung der Nazi-Regierung zum Durchregieren mittels eigener, unbeschränkter Gesetzgebungskompetenz.
Reichsgesetze können demnach auch durch die Reichsregierung beschlossen werden, und sie können von der Reichsverfassung abweichen. Gleiches gilt für völkerrechtliche Verträge. Das besagen die ersten beiden Artikel des “Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich”, das der Reichstag am 23. März 1933 mit Zweidrittelmehrheit beschließen soll.
Die 81 kommunistischen Reichstagsmandate sind bereits annulliert. Viele Aktivisten der linken Parteien sind inzwischen inhaftiert oder auf der Flucht. Trotz dieses rechtswidrigen Eingriffs in das Wahlergebnis und die Grundrechte benötigen die Nazis noch die Zustimmung der konservativen, liberalen und katholischen Parteien zum Ermächtigungsgesetz.
1933: Die deutsche Demokratie ist tot
In dieser Situation sondiert der – fiktive – sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Walter von Ulrich bei seinem ehemaligen Diplomatenkollegen Gottfried von Kessel, einem ebenso fiktiven Reichstagsabgeordneten der katholischen Zentrumspartei.
Beim Mittagessen besprechen die Abgeordneten die Situation. Hitler werde Deutschland auf absehbare Zeit beherrschen, nun gehe es darum, die Katholiken zu schützen, argumentiert von Kessel. Gegen schriftliche Zusagen Hitlers wie den Fortbestand katholischer Schulen und die Nichtdiskriminierung katholischer Beamter würde das Zentrum dem Gesetz zustimmen, so von Kessel.
Für den Sozialdemokraten von Ulrich ein zweifelhafter Deal. “Ein Fetzen Papier, von einem Tyrannen unterzeichnet, gegen ein demokratisches Parlament?”, wirft er ein. Obwohl das Dokument bei der Zentrumsfraktion nicht eingeht, stimmt die Partei dem Gesetz zu. Hitler erreicht sein Ziel. Einzig die 94 anwesenden SPD-Abgeordneten stimmen mit Nein. “Das ist das Ende aller Hoffnung. Die deutsche Demokratie ist tot”, so von Ulrich, zu diesem Zeitpunkt Mitte 40, nach der Abstimmung mit Tränen in den Augen.
Am 24. März 1933 tritt das Ermächtigungsgesetz in Kraft. Bereits im Sommer 1933 ist Deutschland durch Reichsgesetz zum Ein-Parteien-Staat geworden. Spätestens ab dann ist, wie in Diktaturen üblich, die überwältigende Zustimmung des Parlaments zu allen Regierungsplänen gewährleistet.
Dem Ansinnen des Zentrum wird übrigens noch Rechnung getragen: Am 20. Juli 1933 wird in Rom das Reichskonkordat unterzeichnet. Darin treffen Vatikan und Reichsregierung Regelungen über den Status der katholischen Kirche in Deutschland und die Rechte der Gläubigen.
Ein Roman über Aufstieg und Niederringen des Faschismus
Die Selbstaufgabe der ersten deutschen Demokratie bildet den Auftakt des “Winters der Welt”. Diesen beziehungsreichen Titel wählte der britische Schriftsteller Ken Follett für seinen im letzten Herbst erschienenen Roman. Das Buch schildert die Ära, die mit dem Aufstieg und dem Niederringen des Faschismus in Europa verbunden ist.
Mit “Winter der Welt” liefert Follett Teil II seiner Familiensaga über das 20. Jahrhundert. Das letzte Jahrhundert war ein kurzes, sagen viele Historiker. Ihr Blick ist dabei primär auf das gerichtet, was sich zwischen 1914 und 1990 in der nördlichen Hemisphäre abspielte. Rasanter technologischer, sozialer und kultureller Wandel. Dazu zwei mörderische Weltkriege, gefolgt von Friedenszeiten, die wir erklärungsmächtig “Zwischenkriegszeit” und “Kalter Krieg” nennen.
Weltumspannende Kolonialreiche zerfielen. Deutschland griff zweimal nach der Weltmacht. Am Ende standen millionenfacher Mord, ein zerstörter Kontinent und ein geteiltes Land. Der Wechsel der politischen Systeme und staatlichen Ordnungen war gerade für viele Deutsche, die im 20. Jahrhundert lebten, das Beständige in ihrem Leben.
Diese Jahrhundertgeschichte will der britische Schriftsteller Ken Follett, Jahrgang 1949, in drei Romanen erzählen. Zwei Teile der Trilogie liegen vor. In “Sturz der Titanen” (2010) schlägt Follett den Bogen von den Monaten des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges 1914 bis zum Amtsantritt der ersten britischen Labour-Regierung 1924. Nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges wankt die Macht der britischen Aristokratie. Die Monarchen Russlands, Deutschlands und Österreichs wurden durch Revolutionen gestürzt. Demokratische Republik und Diktatur des Proletariats, so heißen die alternativen Ordnungsentwürfe für die Zeit nach den Revolutionen.
Die großen Jahrhundertfragen nach Fortschritt und Modernität, nach der Emanzipation der Frauen und dem Abbau von Klassenschranken sowie der Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei – all das verarbeitet Follett literarisch. Und damit auch, es klangt indirekt schon an, denn teils mörderisch ausgetragenen Wettstreit der Großideologien. Denn in den Zerrüttungen nach den Ersten Weltkrieg entstehen in Europa faschistische Bewegungen.
Weltgeschichte als multinationale Familiensaga
Damit Follett diesen Bogen schlagen kann, erzählt er uns die große Geschichte vermittelt durch die Familien von Ulrich (Deutschland), Williams (Großbritannien), Peschkow (Russland/Sowjetunion, mit einem Zweig in den USA) und Dewar (USA). Als Auswanderer und Zuwanderer, Diplomaten, Soldaten, Politikerinnen und Geheimdienstler kreuzen sich ein aufs andere Mal die Wege von Angehörigen dieser Familien an verschiedenen Orten dieser Welt. Im Vordergrund der Handlung stehen die jungen Erwachsenen dieser Familien. Nichts verbindet bekanntlich mehr als die Liebe. Auch diese Handlungsebene baut Follett reichlich ein. An mancher Stelle hätte ein weniger bei der Darstellung von Körperlichkeit sicher zu einem mehr an Sinnlichkeit geführt. Binationale Ehen sind bei Follett die Regel, denn die Ausnahme. Durch diese Perspektivenvielfalt gewinnt die Handlung zusätzlich.
Das Aufziehen des “Winters der Welt” ist verbunden mit dem Scheitern der parlamentarisch-zivilen Abwehr des Faschismus. Deshalb drängen die Jüngeren auf Aktion. Sie verhindern durch Blockaden einen Aufmarsch der britischen Nazi-Bewegung im Londoner Eastend, wo viele Juden wohnen. Andere kämpfen im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republik. Dann ab 1939 der eigentliche Zweite Weltkrieg.
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Walter von Ulrich überlebt die NS-Diktatur nicht. Als er 1941 in Berlin Nachforschungen nach dem Verbleib behinderter Kinder anstellt, wird er von Gestapo-Leuten zu Tode geprügelt. Die Euthanasiemorde der Nazis dürfen nicht öffentlich werden.
Für Carla und Maud von Ulrich, die Tochter und die englischstämmige Witwe des ehemaligen Reichstagsabgeordneten, steht nun fest: “Sie mussten alles tun, um dem Nazi-Regime ein Ende zu bereiten, selbst wenn das bedeutete, ihre Heimat zu verraten.” Gemeinsam mit Freunden beschaffen sie militärische Geheimnisse und funken sie nach Moskau. Die Parallelen zum realen Widerstandsnetzwerk “Rote Kapelle” sind offensichtlich.
Der kalte Frieden: Das Atomzeitalter
“Winter der Welt” endet zu Weihnachten 1949. Von einem frühlingsgleichen Aufbruch der Menschheit kann da schon jahreszeitlich keine Rede mehr sein. Sinnhaft hat Follett den Schlussteil des Buches mit “Der kalte Frieden” überschrieben. Die Teilung der Welt in Ost und West ist vollzogen. Manifestiert wird sie durch die schon realen Grenzen, die mitten durch Berlin und Deutschland verlaufen.
In der Viersektorenstadt Berlin erlebt Carla von Ulrich als sozialdemokratische Stadtverordnete das Auseinanderbrechen einer gemeinsamen Stadtverwaltung. Ihr Bruder Erik “unterstützte das Sowjetregime genauso blind, wie er einst die Nazis unterstützt hatte”. Für Carla eine “traurige Logik”: Ihr Bruder “gehörte zu den Menschen, die so viel Angst vor dem Leben hatten, dass sie es vorzogen, unter einem autoritären Regime zu leben. Sie brauchten jemanden, der ihnen sagte, was sie tun oder denken sollten. Diese Menschen waren dumm und gefährlich, und es gab schrecklich vielen von ihnen.”
Doch damit nicht genug: Die Atombombe ist in der Welt. Ihre Schöpfer wollten mit ihrer Hilfe den Faschismus niederringen. Nun erschaudern sie vor der Zerstörungskraft dieser Waffe. Zum Ende des Buches beherrschen auch die Sowjets die neue Waffentechnologie.
Winter der Welt
Ken Follett, Bastei Lübbe Verlag 2012, 29,99 Euro
Der Kommunismus ist damit fürs Erste gerettet, so Follett. Der Systemwettbewerb des Kalten Krieges ist eröffnet. Von nun an darf man auf den Schlussstein von Folletts Romantrilogie gespannt sein. Er soll bis zur Zeitenwende 1989 spielen.
Wer das zwanzigste Jahrhundert verstehen will, ist bei Follett genau richtig. Romanhandlung und Realgeschichte werden erneut gekonnt miteinander verbunden. Dramatik gewinnt die Handlung auch dadurch, dass die Offenheit der historischen Situation immer wieder erlebbar wird.
Erlebbar durch Menschen, deren Biografien zumeist nicht geradlinig verlaufen. Zugleich ist Follett vielen Schulbüchern weit voraus. Denn er erzählt uns die Geschichte aus multinationaler Perspektive. Oder eben postnational, wenn man so will. Auch das ist ein Gewinn.
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