Gleich vier Mal ist Holger Witzel im Leseprogramm zur Leipziger Buchmesse 2013 zu erleben. Das ist der Bursche, der seit über drei Jahren auf stern.de seine Kolumne "Schnauze Wessi!" schreiben darf. Zwei Bücher sind daraus schon geworden, das erste - das 2012 erschienene "Schnauze Wessi!" - mittlerweile in der 4. Auflage. Vielleicht auch schon in der 5. "Schmerzhaft, im Kern jedoch sehr wahr", gesteht auch sein Verlag zu.
Der steht in Gütersloh. Wo auch sonst? Nur so kommt ein solcher Titel auch in die Buchhandlungen. Hätte ein Verlag aus dem sibirischen Osten das Wagnis gewagt, das Buch wäre kläglich verkommen. Und westwärts der brüderlichen Wasserscheide hätte es nicht mal das Montagsfeuilleton zur Kenntnis genommen. Die deutsche Einheit leidet. Auch unter Aufmerksamkeitsdefiziten. Unter Ignoranz und Gier sowieso. Und es ist den Machern dieses Einheitsbreis bis heute nicht peinlich, was sie da angerichtet haben. Und dass die Ganoven, die seit Jahr und Tag für den üblichen Skandalnachschub in ostdeutschen Gefilden sorgen, teurer, gehätschelter Westimport sind – es verstört nur den, der das Ganze aus der üblichen Perspektive betrachten darf: aus der Froschperspektive.
Und der Stoff geht Witzel nicht aus. Er muss nur das reguläre mediale Gezeter aufmerksam gegen den Strich bürsten, und schon tauchen sie alle auf – die drittklassigen Trickser, Täuscher, Postenbesetzer, Seilschaftler und Aufkäufer. Die noch nicht einmal ahnen, dass sie sich wie Elefanten im Meißner Porzellanladen benehmen. Wie auch? Sie kennen es ja nicht anders. Und ganze Kompanien von Wissenschaftlern grübeln nun seit Jahren darüber, woran das liegt, warum die Mentalitäten so komplett verschieden sind.
Witzels Kolumnen erzeugen für die, die ihr Stück von der Welt unter diesem Zustand seit 22 Jahren leiden sehen, eine Achterbahnfahrt zwischen blankem Entsetzen und einem Lachen, das einem schier die Haare zu Berge stehen lässt.Aber der Spaß sitzt ja noch viel tiefer. Das Gütersloher Verlagshaus, wo Witzels Bücher erscheinen, ist eigentlich Spezialist für “Gesellschaft & Religion / Theologie & Gemeinde”, eine Tochter der riesigen Verlagsgruppe Randomhouse / Bertelsmann. Die Ressorts, in denen der Verlag publiziert, sind durchaus interessant. Und man würde “Schnauze Wessi” wohl mit vielen guten Gründen unter “Schicksalsberichte”, selbst unter “Sterben, Tod und Trauer”, “Spiritualität & Religion” oder “Lebenshilfe & Psychologie” suchen. Denn Witzel schreibt ja aus dem richtigen Leben hienieden. Und was offiziell als “Pöbelei” verkauft wird, ist hin und wieder nicht einmal zynische, sondern traurige Analyse.
In den zuweilen satirischen Aufarbeitungen der Gegenwart tauchen Sätze auf, die sind so nüchtern wie treffgenau. “Es hat nach 20 Jahren nichts mehr mit Mode und nur noch selten mit Dialekten zu tun: Wir fallen einander auf, weil wir nicht weiter auffallen, was den anderen vermutlich nicht mal auffällt, weil sie damit beschäftigt sind aufzufallen.”
Manche Forscher glauben das mit unterschiedlicher Sozialisation erklären zu können, mit subtilen Sprachunterschieden.
Nachschlag für Holger Witzels “Schnauze Wessi”: Gib Wessis eine Chance
Das Jahr 2013 ist ein gutes Jahr …
Der “Ossi”: Eine Leipziger Studie zum Bundes-Medienbild vom Ostdeutschen
Die “Töpfchen-These” kommt drin vor …
Das Ossi-Wessi-Thema ist noch lange nicht gegessen: Interview mit einem Leipziger Pöbler oder “Schnauze, Wessi!”
Kurz vor dem Termin überlegte ich noch …
30 Kolumnen jetzt zum Einstecken und Verschenken für alle Besser-Dingsdas: Schnauze Wessi
Irgendwann 2009 hatte Holger Witzel die Nase voll …
Aber das Schlimme ist: Hinter diesem Karneval derer, die sich immerfort bestätigt fühlen wollen – und sei es in einem Wettbewerb um die besten Dinkelkekse – steckt etwas anderes: eine Oberflächlichkeit, die unsere Welt kaputt macht. Nicht nur die Kinder, die ausgebrannten Billigarbeiter, die verkauften Landschaften, Städte und Seen. Und wer in Leipzig lebt, kennt diese Suppe des euphorischen Höhenrausches, der mit der gelebten Wirklichkeit von 90 Prozent der Einwohner nichts zu tun hat.
Umso erstaunlicher, dass sich Witzel zur Buchmesse sogar in die Höhle des Löwen traut. Am Sonntag, 17. März, ist er für ein halbes Stündchen (von 12 bis 12.30 Uhr) in der LVZ-Autoren-Arena zu Gast. Jener Zeitung, die den überdrehten Hype in Leipzig zum Dauerton gemacht hat. Dass das nichts mit den verschwitzten Redakteuren aus dem schnieken Protzbau im Peterssteinweg zu tun hat, wissen die aufmerksameren Leser ja. Aber die Blattpolitik wird im Hause Madsack bestimmt. Und das steht in Hannover.
Das Ergebnis ist die tagtägliche Überschwemmung des eigentlich wichtigen und meistens auch ernsthaften Kerns an Nachrichten mit einer bunten Orgie des schönen Scheins.
Übrigens einsickernd längst in alle anderen Bereiche der Stadt, bis in die PR-Eskapaden der kommunalen Betriebe. Stichwort: die “Vorteilskarte” mit dem Namen “Leipziger”, mit der die Rabatt- und Schnäppchenjagd, wie sie die “fleißige Hausfrau” West 40 Jahre zu besinnungslosen Begeisterungsstürmen animierte, den Leipzigern als generöse Geschenkaktion verkauft wird. Es hört ja nicht auf.
Und es sieht ganz so aus, als würde Holger Witzel auch weitere 22 Jahre der Stoff nicht ausgehen. Es gibt tagtäglich neue Lieferungen. Der nächste Schneider oder Postel ist garantiert schon am Werk.Und das Verblüffende: Während man beim Lesen vom Stuhl fällt, weil man vor lauter Heulen nicht aus dem Lachen herauskommt, entfalten die Texte – vorgelesen von gestandenen Schauspielern und Sprechern – ihren tatsächlichen Ernst. Zehn Kolumnen aus Witzels erstem Buch “Schnauze Wessi” wurden für dieses Hörbuch von Unterlauf & Zschiedrich eingelesen. Durchaus unterschiedliche Charaktere, echte Eingeborene zumeist wie Tom Pauls aus Dresden, Alexander Terhorst aus Halle, dem “Keimzeit”-Sänger Norbert Leisegang, dem (Ost-)Berliner K. Dieter Klebsch. Aber auch die jüngere Generation derer, die den größten Teil ihres Lebens schon nach der großen Verbrüderung und Verschwesterung genießen durften, leihen den Kolumnen und den Zwischentexten ihre Stimme – Philipp Nawka, Maren B. Gingeleit, Nany Mattstedt und Christoph Walther.
Unterlegt ist das mit leichten Kletzmer-Stücken, die irgendwie daran erinnern, dass sich hier eine Minderheit zu Wort meldet, die meistens eher geduldet als geliebt ist, aus elitärer Perspektive ein bisschen lächerlich wirkt – und viel zu anmaßend.
Es ist schon erstaunlich, wie sich bestimmte Ressentiments und Haltungen im geflickten Deutschland immer wieder neu produzieren.
Woran liegt es wirklich?
Wir werden es erfahren, wenn das große Selbstbeweihräuchern einmal eine kleine Lücke zulässt, einen Blick hinter die Bütt. Ansonsten geht das natürlich immer so weiter. Und daran ändern weder Frauenquote noch Herdprämie noch freiwillige Pflegeversicherung etwas und wie die bunten Seifenblasen aus Nixverstand sonst noch so heißen.
Schnauze Wessi! – das Hörbuch
Holger Witzel; Alexander Zschiedrich, Unterlauf & Zschiedrich Hörbuchverlag 2013, 13,95 Euro
Holger Witzel zur Leipziger Buchmesse:
Mittwoch, 13. März, 20 Uhr im Café Maître (Karl-Liebknecht-Straße 62): “Gib Wessis eine Chance: Neue Beiträge zur Völkerverständigung”.
Samstag, 16. März, 20:30 Uhr im Tapetenwerk, Haus A, Die Plattenküche (Lützener Straße 91): “Gib Wessis eine Chance: Neue Beiträge zur Völkerverständigung”.
Sonntag, 17. März, 12 Uhr in der LVZ-Autorenarena (Messe, Halle 5, Stand A100)
Sonntag, 17. März, 19 Uhr im Café Esprit (Leipziger Straße 40, Taucha)
Showdown beim Elternabend: www.stern.de/politik/deutschland/schnauze-wessi-showdown-beim-elternabend-1622725.html
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