Ja, was steckt denn nun drin in diesem schmalen Gedichtband? Die "Trostlosigkeit des realexistierenden Sozialismus und (die) Verwerfungen der postsowjetischen Zeit", wie der Verlag verkündet? Irgendwelche spinatgrünen Wände, grauen Funktionäre, leeren Ladenregale? - Man sucht sie vergeblich, auch wenn der usbekische Dichter Bahrom Ro'zimuhammad seine Gedichte zwischen 1989 und 1994 schrieb.

Sie stammen aus dem 1995 erschienenen Band “Davsaman”. Jakob Taube hat sie – unter Mitarbeit von Bahomir Jurabayev und Peter Dombrowski – übersetzt. Vielleicht braucht es ein Glossar, um als unbefangener Leser entschlüsseln zu können, wo hier die “Trostlosigkeit des realexistierenden Sozialismus” usw. zu finden wären, wenn man wüsste, wie sie der 1962 geborene Dichter versteckt hat. Usbekistan ist so weit weg, dass es in deutschen Medien eigentlich nur auftaucht, wenn dort Bomben explodieren oder es fast zum Krieg mit Kirgisien kommt.

Seit 1989 regiert Islom Abdug?aniyevich Karimov das Land – anfangs als Parteisekretär der KPdSU. 1991, als der Putsch gegen Gorbatschow scheiterte, erklärte er die Unabhängigkeit des Landes. Seitdem ist er Staatspräsident und gewinnt die Präsidentschaftswahlen – trotz aller Unruhen und Proteste – immer mit um die 90 Prozent.

Bahrom Ro’zimuhammad hat auch ein kleines Nachwort zu diesem Bändchen geschrieben: “An Deutschland”. Darin erklärt er, warum Leser, die die recht klare und eindeutige Lyrik (West-)Europas kennen, diese Klarheit in seinen Versen nicht finden werden. “Wir Mittelasiaten werden im Geist der Treue zu den Traditionen erzogen”, schreibt er. “Das heißt, angenommen, wir machen uns an eine jähe Umgestaltung der literarischen Tradition, begegnet uns Tadel.”Schon das ein schöner Satz, der so viele Implikationen in sich schließt. Nicht nur, was die Bedingungen betrifft, unter denen Bahrom Ro’zimuhammad schreibt, sondern auch was unsere westliche Ungeduld betrifft und unsere rigide, manchmal auch ordentlich gepanzerte Art, mit anderen Völkern und Ländern umzugehen.

Da hilft auch keine Übersetzung. Es sei denn, der Übersetzer liefert auch eine Übersetzung der Kultur, der Religion, der Lebensart und wohl auch der Traditionen mit. Dadurch, dass die Welt mit McDonald’s-Filialen und Wall Marts gepflastert wird, gleicht sie sich dem westlichen Lebensstil noch lange nicht an. Und auch die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Veränderung gleichen sich nicht aus. Im Gegenteil: Die traditionellen Strukturen geraten mit den von schneller Veränderung besessenen in einen scharfen Konflikt. Auch die ach so ungeduldigen US-Amerikaner und Europäer werden lernen müssen, die Unterschiede der Traditionen und des Zeitempfindens zu akzeptieren. Selbst wenn man hier im Mittelpunkt einer scheinbar rasenden Zeit denkt, man müsse diverse Herrscher und Diktatoren nur einmal ordentlich über den Löffel balbieren, dann ziehen schon freier Handel, wirtschaftlicher Erfolg und eine Art herrlicher Demokratie ein.

Es funktioniert nicht. Diese Prozesse dauern länger, viel länger, als es sich Mancher wünscht. Und dass die Zeit in den Gedichten von Bahrom Ro’zimuhammad anders tickt, hat auch mit der Kultur zu tun, in der er lebt. Seit dem frühen Mittelalter – wie Wikipedia bestätigt – ein Kerngebiet islamischer Kultur. Die großen Städte des Landes entspringen der persischen Stadtkultur. Ihre Namen haben heute noch ihren orientalischen Glanz bewahrt: Taschkent, Buchara, Samarkand.

Was auch bedeutet: Wer hier Dichter ist, schreibt in der Tradition der großen persischen Dichter. Und diese Tradition ist wie die islamische Bilderwelt – voller Symbole, Stille, voller Farben und den wahrnehmbaren Dingen der Landschaft. Selbst das Ich ist ein zurückgenommenes Ich, ein Betrachter-Ich, das sich in Beziehung setzt zum Moment, zum Tag, zu den Jahreszeiten, auch zu den Verwerfungen der Zeit. Auch über Themen wie Lüge, Zweifel, Verrat, Leidenschaft und Hoffnungslosigkeit schreibt Bahrom Ro’zimuhammad wie unbeteiligt, aus mitfühlender Distanz. Selbst dann, wenn die Gefühle tatsächlich ihn selbst betreffen.Der Titel des Bandes bringt es eigentlich schon auf den Punkt: “Ich habe mein Selbst vergessen”. Es sind Gedichte wie zwischen Traum und Wachsein, Schauen und der immer wieder aufkeimenden Sehnsucht nach Schlaf. Gefühle sind etwas Verletzbares. Doch über Verletzungen spricht man nicht. Man wirft der Geliebten ihre Verletzungen nicht vor. Immer wieder diffundiert das sprechende Ich. Wen spricht Bahrom Ro’zimuhammad an, wenn er “Ich habe mein selbst vergessen” schreibt? Den Freund, die Geliebte, sich selbst? – Alle ist möglich. Solche Gedichte spielen mit der Vieldeutigkeit.

“ich habe mein selbst vergessen / warum bin ich allein / warum vergisst du nicht dein selbst”. Selbstvergessen auch als Weg zu sich selbst. Das ist nicht einmal mystisch. Es ist wie ein Kontrapunkt zu der uns so vertrauten Ich-Besessenheit. Dem, was wir manchmal beschönigend sogar Egoismus nennen. Es sind völlig konträre Welthaltungen, die hier aufeinander treffen – und die das Übersetzen solcher Verse ins doch recht rationale Deutsch auch komplex machen und nicht wirklich einfach. So kann man, wenn man sehr genau liest und auch die Mehrdeutigkeiten zulässt, auch eintauchen in eine Weltsicht, die sich deutlich unterscheidet von dem, was wir für die Norm halten. Und mancher Vers ist auch eine genauso versteckte Kritik – und auch eine Selbstverortung. Denn dass die Stürme der Zeit auch an Usbekistan nicht vorbei wehen, das ist dem Dichter wohl bewusst. Als Widerspruch im eigenen Erleben und Tun: “hätt ich doch …”

Zwischen dem Empfinden und Erleben klafft ein Riss. Den auch der Sprecher der Verse empfindet: Äußerlich lacht er – oder sieht sich gar schminken für den öffentlichen Auftritt, “um mit eifer teilzunehmen / an einem traum”. Doch inwendig weint sein Herz. Was dann das “selbst vergessen” in die nähe des “sich selbst verraten” führt.

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Ich habe mein Selbst vergessen
Bahrom Rozimuhammad, Leipziger Literaturverlag 2013, 16,95 Euro

Ein Motiv, das übrigens ein Autor aus dem Nachbarland Kirgisien eindrucksvoll zum Motiv seines letzten Romans gemacht hat: “Der Schneeleopard” – von Tschingis Aitmatov.

So deutlich wird Bahrom Ro’zimuhammad noch nicht. “Die Phantasie des Gedichts ist eine verborgene Phantasie”, schreibt er in seinem Nachwort. “Vielleicht kann der Mensch in seinen Träumen nicht zur Freiheit gelangen.” Was natürlich auch wieder Fragen eröffnet: Wo kann er es dann? Oder: Kann er es überhaupt? – Oder: Was muss passieren, dass er es kann?

Schöne Fragen. Doppelbödige Fragen. Nicht nur in Usbekistan.

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