Über 200.000 kranke und behinderte Menschen wurden während der NS-Zeit in Deutschland ermordet. Die Gesellschaftsgeschichte der staatlichen Euthanasieverbrechen beschreibt Götz Aly in seinem neuesten Buch "Die Belasteten". Mit dem Werk ist Aly in diesem Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik nominiert.

In den Morgenstunden des 4. Dezember 1943 erfolgte der zerstörerischste britische Luftangriff auf Leipzig. Die Quellen sprechen von 1.800 Toten.

Dieses Massensterben zog in der Region weitere Kreise. Denn die Ausgebombten und Verletzten mussten untergebracht und medizinisch versorgt werden. Im mittelsächsischen Waldheim beispielsweise.

Für die nötigen Unterbringungskapazitäten sorgten Männer wie Gerhard Wischer (1903 – 1950), Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Waldheim. Der “Terrorangriff auf Leipzig” hätte “sehr viel Durcheinander mit sich gebracht”, schrieb Wischer zu Jahreswechsel 1943/44 an seinen vormaligen akademischen Lehrer, Professor Paul Nitsche (1876 – 1946). “Desgleichen viele Abgänge, die ganz reibungslos sich erledigen”, so Wischer weiter.

Denn zwischenzeitlich hatte Wischer auch das dringend erbetene Epivan und Luminal erhalten. Jene Substanzen, mit denen psychisch Kranken getötet wurden. “Abgang” hieß in dieser späten Kriegsphase auch in der Anstalt Waldheim nicht mehr nur, Verlegung in eine Tötungsanstalt, sondern Ermordung am Ort.

Wenn der Politikwissenschaftler Götz Aly, Jahrgang 1947, Bücher über die nationalsozialistische Diktatur schreibt, werden Fragen gestellt, die andere so nicht stellen. Und es werden Zusammenhänge hergestellt, die andere gern ausblenden.Die Schattenseite von Fortschritt und Moderne

Mit seinem heute erscheinenden Buch “Die Belasteten. ?Euthanasie? 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte” bleibt sich Aly treu. Und er liefert uns einen Lesestoff, der erneut die Fragen nach den Schattenseiten von Fortschritt und Moderne stellt. Verbunden mit der verstörenden Beschreibung, dass, um es mit Sigmund Freud zu sagen, aufgrund menschlicher Dispositionen die “Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht” ist.

“Die allermeisten Deutschen hatten sich in den Bannkreis des Bösen ziehen lassen”, bilanziert Aly am Ende seines Buches über die Euthanasiemorde im Nazi-Reich. Dass während eines mörderischen Krieges moralische Schranken zusehends fallen, ist kein singuläres Phänomen. Die Einzigartigkeit im nationalsozialistischen Falle besteht in der planvollen und systematischen Vernichtung von immer mehr Menschengruppen als Staatsdoktrin.

Das vorab beschriebene Beispiel aus der Phase der so genannten “wilden Euthanasie” war eben nicht wild und spontan. Sondern Teil des katastrophenmedizinischen, wie sozialpolitischen Deals zwischen NS-Führung und Bevölkerung nach Einsetzen des alliierten Luftkrieges. Mehrfach ist beschrieben worden, wie bis zum Kriegsende vergleichsweise organisiert die Unterbringung der Luftkriegsgeschädigten vor sich ging. Der systematische “Abgang” durch Tod von psychisch Kranken und Behinderten war Teil des Konzepts.
Der Namen Paul Nitsche ist schon gefallen. Der Psychiater war Direktor der Heil- und Pflegeanstalten Leipzig-Dösen und Pirna-Sonnenstein. Er gilt als einer der führenden Köpfe der NS-Euthanasiemorde. Dass Nitsche um den Jahreswechsel 1939/40 als Chef von Sonnenstein nach Dösen wechselte, hatte einen mörderischen Grund. Die einstmalige Reformpsychiatrie auf dem Sonnenstein wurde in eine Tötungsanstalt umgewandelt. Die Ermordung von Menschen, die als “lebensunwert” eingestuft wurden, erfolgte 1940/41 in Gaskammern im Rahmen der “Aktion T4”.

Auch hiervon erzählt Aly beklemmend. Er verweist auf die Interaktion zwischen Machthabern, Medizinern und Angehörigen der Euthanasieopfer. Immer wieder belegt Aly, dass jene Insassen der Heil- und Pflegeanstalten überleben konnten, deren Angehörige nachforschten, den Kontakt hielten oder ihre Verwandten zu sich nahmen.

Auch bei der Kindereuthanasie verweist Aly auf unausgesprochene Deals zwischen den Euthanasiemördern und deren Angehörigen. Mit einer “codierten Frage”, so Aly, seien die Eltern um die – zumindest implizite – Einwilligkeit in eine hochriskante Behandlung gebeten worden. Die Behandlung bestand in einer Todesspritze in der Mittagszeit. Verabreicht vom diensthabenden Arzt, zumeist assistiert von einer erfahrenen Stationsschwester.

Den Eltern war so die Entscheidung über Leben und Tod abgenommen. Zugleich wussten sich die Mediziner straffrei gestellt. Denn ein Sterbehilfegesetz war ausformuliert, wie Aly betont, aus Opportunitätsgründen aber nicht in Kraft gesetzt worden.

Vernichtung von Leben als Teil des Wissenschaftsdiskurses

Die Grundlegung über die Bedingungen der Zulässigkeit der Tötung von “geistig Toten” und “Ballastexistenzen” hatten der Jurist Karl Lorenz Binding (1841 – 1920) und der Psychiater Alfred Hoche (1865-1943) mit ihrer Schrift “Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form” geliefert. Sie erschien 1920 nach Bindings Tod. Dem vormaligen Leipziger Universitätsrektor Binding wurde wegen dieser Schrift 2010 die Ehrenbürgerwürde der Messestadt wieder entzogen.

Die Gedanken von Binding und Hoche lagen durchaus im Trend der vermeintlich modernen Zeit. Im Mittelpunkt aller Bio- und Sozialpolitik stand zusehends nur der gesunde Mensch. Medizinische Forschung und psychiatrische Therapieansätze konzentrierten sich auf die Heilung der Betroffenen. Wer nicht heilbar erschien, lief Gefahr, als “lebensunwert” eingestuft zu werden.

Die Zwangssterilisierung dieser Menschen war im beginnenden 20. Jahrhundert in vielen vermeintlich modernen Gesellschaften ein akzeptiertes und praktiziertes Mittel. Es folgte die partielle Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.

Und dann, im nationalsozialistischen Deutschland die aktive “Lebensverkürzung” mittels “Hungerkuren”, Vergasung, Todesspritzen und Medikamentengaben. Zuerst aus “rassenhygienischen Gründen” im Sinne der NS-Rassenlehre: Später ganz utilitaristisch, wie Aly schreibt: Die so genannten Volksdeutschen, die nach einschlägigen Vereinbarungen zwischen Hitler und Mussolini sowie zwischen Hitler und Stalin 1940 aus Südtirol, dem Baltikum und Teilen Südosteuropas auf das Reichsgebiet umgesiedelt wurden, brauchten Platz. Platz, der durch die “Räumung” von Heil- und Pflegeanstalten geschaffen wurde.

Noch brutaler galt diese Regel im besetzten Polen und in den besetzten Teilen der Sowjetunion. Wenn Wehrmachtseinheiten zur Beschaffung von Proviant und Quartier auf Pflegeheime zugreifen wollten, setzten sie auf dem Dienstweg die Erschießung der Insassen durch die SS durch, wie Aly belegt.

Dass die Krankenmorde der Probelauf zum Holocaust waren, ist unter Historikern unstreitig. Dabei ging es laut Aly nicht nur um technologische Fragen und die Schulung von Tötungspersonal. Es ging den Machthabern auch darum auszutesten, inwieweit das Verschwinden von Menschengruppen denn zu massiven Nachfragen in der Bevölkerung führen würde.

Die Frage nach der Schutzbedürftigkeit von LebenAly verweist resümierend darauf, “wie wichtig gesellschaftliches und staatliches Wohlwollen für die innere, durchaus angreifbare Balance” in der Beziehung von Eltern zu ihren behinderten Kindern ist. “Während der NS-Zeit wurden die Eltern behinderter Kinder nicht nur propagandistisch und psychisch unter Druck gesetzt, sondern auch materiell”, so Aly.

Darüber hinaus hebt er hervor, dass der vehementeste Protest gegen die Euthanasiemorde von konservativer, fast ausschließlich katholischer Seite vorgetragen wurde. Offenbar einzig das katholische Verständnis von der Schutzbedürftigkeit des Lebens setzte hier ein moralisches Stoppzeichen, argumentiert Aly.

Dabei verweist er zuvörderst auf den Münsteraner Bischof Clemens August Graf Galen (1878 – 1946). Die öffentlichen Predigten Galens gegen die Krankenmorde im Sommer 1941 durchbrachen das Stillschweigen zwischen NS-Führung und Bevölkerung über diese Verbrechen, so Aly. Ein Verdrängen war forthin nicht mehr möglich.

Bestellen Sie dieses Buch versandkostenfrei im Online-Shop – gern auch als Geschenk verpackt.

Die Belasteten
Götz Aly, S. Fischer Verlag 2013, 22,99 Euro

Galens Predigten bewirkten ein Ende der Aktion T4, der Ermordung von Kranken und Behinderten in Gaskammern. Das Planziel von 70.000 Ermordeten hatten die Täter ohnehin vorfristig erreicht, führt Aly an. Das Morden ging später, wie gezeigt, auf anderen Wegen weiter.

Das Gedenken an die Opfer der NS-Euthanasiemorde begann spät, wie der Autor nach über 30 Jahren Forschung und Erinnerungsarbeit zum Thema weiß. Auch das ist Teil der Gesellschaftsgeschichte über Mentalitäten und Scham, von der Aly erzählt.

In Leipzig bringen Stolpersteine die Namen von Opfern der NS-Euthanasie ins öffentliche Bewusstsein zurück.

www.preis-der-leipziger-buchmesse.de

www.stolpersteine-leipzig.de

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar