Das Buch irritiert. Man kann es umdrehen. Auf dem Frontcover steht "Erwin Strittmatter und die SS", auf der Rückseite, die selbst wie ein Frontispiz aussieht: "Günter Grass und die Waffen-SS". Zur Buchmesse - am 16. März - wird das Buch Thema. In diesem Fall der gerade erschienene Folgeband: "Erwin Strittmatter und der böse Krieg". Doch selbst das 2011 erschienene Buch ist weiter hoch aktuell. Trotz der 2012 veröffentlichten Strittmatter-Biografie von Annette Leo.

Und ebenso trotz des ebenfalls 2012 erschienenen ersten Bandes der Strittmatterschen Tagebücher (1954 – 1973). Der Konflikt um Erwin Strittmatters Zeit im 2. Weltkrieg kochte 2008 hoch, als Werner Liersch in der FAZ seinen Artikel “Erwin Strittmatters unbekannter Krieg” veröffentlichte. Zwei Jahre zuvor hatte Günter Grass in seinem Buch “Vom Häuten der Zwiebel” erstmals öffentlich gemacht, dass er als 17-Jähriger zur Waffen-SS ging. Beides erregte die Gemüter im Diskutantenstadl. Man gab sich empört, tat enttäuscht. Die übliche Tugend-Maschine lief an. Mancher ritt mit auf der Marketing-Welle: Strittmatter ein strammer Nazi? Schon immer gewusst!

Die übliche Rechthaberei besetzt den Platz. Bis heute. – Einer freilich stutzte schon bei dem, was Werner Liersch erzählte (der eigentlich ein profunder Literaturwissenschaftler aus dem Osten ist, der es auch mit den Fakten stets genau nahm): Joachim Jahns, der 1990 seinen Dingsda-Verlag gegründet hatte und seither immer wieder streitbare Bücher zur Zeitgeschichte veröffentlichte. Eines, das für Furore sorgte, war 2006 die Autobiografie von Lisl Urban “Ein ganz gewöhnliches Leben”. Nicht so sehr wegen des Themas – mittlerweile gibt es ja einige Biografien von Deutschen, die auch über ihre Verstrickungen und ihr Mitläufertum in der NS-Zeit berichten. Auch wenn Urbans Buch in ihrer Tabulosigkeit wohl etwas Einmaliges ist. Sie lebte in mehrjähriger Ehe mit einem ranghohen SS-Mann zusammen und erwähnt in ihrem Buch einen – anonymisierten – SS-Hauptsturmführer “Eike”. Eigentlich eher ein Randkapitel. Doch ein ebensolcher einstiger SS-Mann meldete sich nach Erscheinen des Buches nicht nur zu Wort, sah sich in “Eike” porträtiert und fühlte sich “in seiner Ehre verletzt”. Er wollte das Buch schlichtweg wegen “Verbreitens von Lügen” verbieten lassen. Und so nebenbei sah er auch seine Legende in Frage gestellt, ein vermeintlicher “Wehrkraftzersetzer” gewesen zu sein und damit so etwas wie ein Widerstandskämpfer gegen das Nazi-Reich.

Joachim Jahns sah nicht nur einen für seinen Verlag wichtigen Titel in Gefahr. Er wollte gegen so einen Mann auch keinen Prozess verlieren und begann nun gezwungenermaßen selbst nachzuforschen. Dabei holte er nicht nur die reale Militärbiografie dieses Mannes aus der Versenkung der Archive, er beschäftigte sich zwingendermaßen auch mit der Geschichte der Schutzpolizei-Bataillone, die ab 1939 in den von Deutschen besetzten Gebieten zum Einsatz kamen und dort mit “Befriedungsaktionen” betraut waren. In einem solchen Bataillon diente Erwin Strittmatter ab 1940, nachdem er sich freiwillig auf einen Aufruf hin gemeldet hatte.Warum er sich freiwillig meldete, – erst zur SS (diese Meldung zog er wieder zurück) und dann zur Schutzpolizei – das arbeitet Jahns in diesem Buch sehr akribisch heraus. Und als Liebhaber der großen Strittmatterschen Romane und Erzählungen kennt er auch die Stellen in dessen Büchern, wo der Schriftsteller oft sehr detailliert auf seine Erlebnisse im Verlauf des Krieges eingeht – verklausuliert teilweise, und trotzdem sehr bildhaft. Manches scheint er Zeit seines Lebens trotzdem nicht in Worte gefasst zu haben. “Wer in einen Krieg zieht, macht sich schuldig”, sagt Jahns. Und wenn es nur das Dabeisein war. Auch die DDR war nicht das Land, in dem ein Autor, der gedruckt werden wollte, offen über seine Erfahrungen in der NS-Zeit reden und schreiben konnte.

In der Diskussion von 2008 ff. war eine zentrale Frage: War Strittmatter nun bei der SS und ist er gar freiwillig hingegangen? Eine Frage, die scheinbar mit “Ja” beantwortet wurde. Denn die Polizei-Regimenter wurden 1943 von Heinrich Himmler, dem sowohl Polizei wie SS unterstanden, in SS-Polizei-Regimenter umbenannt. Was freilich nicht bedeutete, dass die Regimentsangehörigen zu SS-Männern wurden. Freiwillig hatte sich Strittmatter gemeldet – zur Schutzpolizei. Wohl auch in der Hoffnung, auf diese Weise nicht zu jenen Truppen gezogen zu werden, die sofort an den Fronten verheizt wurden. Jahns Spurensuche bestätigt ein Bild von Strittmatter, das man in vielen seiner Romangestalten wiederfindet, die immer wieder versuchen, durch Winkelzüge, Ausweichmanöver, zuweilen schwejksche Eskapaden dem Zugriff der Mächtigen zu entkommen. Denen des NS-Regimes übrigens genauso wie später denen der neuen roten Macht. Da trafen sich mit Strittmatter und Brecht durchaus zwei Gleichgesinnte.

Was die Sache noch zusätzlich mit Farbe anreichert, denn zumindest Brecht wurde von Grass mit seinem Stück “Die Plebejer proben den Auftrag” auch auf offener Bühne noch nachträglich angegriffen. Dass ein im Stück vorkommender “Erwin” auf Strittmatter gemünzt sein könnte, kann nur gemutmaßt werden.

Aber die späten Enthüllungen über die Kriegszeit der beiden bedeutenden deutschen Autoren mit ihrem so unterschiedlichen Echo zeigen auch, wie schwer sich die Bundesrepublik bis heute tut, mit dem Thema umzugehen. Statt sich nun wirklich mit historischem Abstand an die Forschung zu begeben und die Verstrickungen, Zwänge, Strukturen der NS-Zeit und ihrer unterschiedlichen Zugriffe auf das wehrdienstgeeignete “Männermaterial” aufzuarbeiten, wird jeder Fall wie ein einzelner Sündenfall behandelt. Und nicht nur das: Es wird ein moralischer Maßstab angelegt, der für die tatsächlichen Täter, Befehlsgeber und Nutznießer des Regimes nicht galt.

Bei Strittmatter wie bei Grass wuchs aus dieser Erfahrung des Krieges und der Gräuel, an denen sie beteiligt waren, nach dem Krieg ein zutiefst humanistisches Werk. Sie wurden beide zu Stimmen eines anderen, friedlicheren Deutschlands. Und sie wurden es nicht, weil sie sich gezwungen sahen, einen Teil ihrer Biografie zu vertuschen. Auch wenn das mit dem “Vertuschen” bei Strittmatter bei all den jüngeren Diskussionen eine Übertreibung war – die verantwortlichen Funktionäre wussten sehr wohl um die möglichen Kriegserfahrungen ihres zeitweiligen 1. Sekretärs des Schriftstellerverbandes. Manche wollten sie wohl auch gar nicht so genau wissen.Da jeder Fall immer wieder nur einzeln “verhandelt” wird, erscheint auch jeder einzelne “Ertappte” als einzelner “Sündenfall”, wird nachträglich verurteilt, ohne auf die möglichen Zwänge in den Lebensläufen der einzelnen Akteure einzugehen. Jahns tut es sehr akribisch und entdeckt dabei durchaus einen Strittmatter, wie ihn seine Leser kennengelernt haben. So, wie sich die Leser Alfred Anderschs auch im Deserteur Andersch wiederfinden können. (“Die Kirschen der Freiheit”). Vielleicht wäre es wirklich einmal an der Zeit, all die verstreuten Geschichten von deutschen Autoren zusammenzutragen über ihren Krieg, ihre Motivation und ihren Umgang mit dem Stoff. Man könnte eine Menge draus lernen.

Und es würde auch den Blick wieder weiten über die gängigen Klischees hinaus. Das Spektrum reicht von den tatsächlich schwejkisch geschilderten Erlebnissen eines Heinz Knobloch, der die “freiwillige Meldung” zur Waffen-SS gerade noch umschiffen konnte und an der Westfront desertierte, bis zu Dieter Noll, der 16jährig als Flakhelfer gezogen wurde und noch 17jährig zur Wehrmacht kam und seinen Krieg im ersten Band der “Abenteuer des Werner Holt” verarbeitete. Nicht zu vergessen ein Heinrich Böll, der alle sechs Kriegsjahre durchstehen musste und das augenscheinlich nur mit dem angstdämpfenden “Pervitin” schaffte. Seine Bücher über die psychischen Leiden eines Kriegsheimkehrers gehören heute zum Verstörendsten, was die deutsche Literatur zu bieten hat.

Und wenn sich einer dann noch etwas intensiver mit den Strukturen der diversen NS-Militär- und -Polizeieinheiten beschäftigt wie Jahns, kann er auch besser einordnen, ob er es mit einem uniformierten Täter in Verantwortung zu tun hat oder einem der Millionen Männer, die in dieser Militärmaschinerie irgendwie versuchten “durchzukommen”. Was eigentlich die wichtigere Botschaft ist. Denn wenn diese Maschinerien erst einmal installiert sind (und davor warnte auch Brecht in den 1950er Jahren wieder), dann verengen sich die Spielräume des Einzelnen.

Jahns arbeitet die möglichen Handlungszwänge und Beweggründe für Strittmatters Entscheidungen zwischen 1939 und seinem “Abhauen” 1945 sehr akribisch heraus. Er hat ein Buch geschrieben, wie man es sich in seiner Akribie eigentlich von den üblichen “Literaturforschern” wünscht. Auch eines, das in der Strittmatter-Debatte fehlen würde, wär’s nicht erschienen. Auch wenn es einige Debattanten weiterhin ignorieren, weil ihnen komplizierte Sachverhalte nie simpel genug sind.

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Erwin Strittmatter und die SS
Joachim Jahns, Dingsda-Verlag 2011, 25,00 Euro

Die zweite Publikation des Dingsda-Verlages zur Strittmatter-Debatte besprechen wir hier in den nächsten Tagen.

Aber die Veranstaltung des Dingsda-Verlags zur Buchmesse am Samstag, 16. März, um 14 Uhr in der Buchhandlung Hugendubel (Petersstr. 12-14) zu “‘Erwin Strittmatter und der böse Krieg.’ (Biografische Nachträge) von Joachim Jahns” sei hier schon einmal empfohlen. Mitwirkende sind Joachim Jahns und als Moderatoren Ine Dippmann und Henner Kotte.

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