Bevor Einstein und Planck und all die anderen zum Zuge kamen, war die Welt in Ordnung. Zumindest für Leute, die in geschlossenen Weltbildern dachten, für die Euklid die Grenze der Möglichkeiten war und Kepler sowieso schon eine Nummer zu groß. Bis dahin war es einfach, sich in drei Dimensionen einzurichten, auch wenn ein Herr Gauß beim Vermessen der hannoverschen Lande stutzte: Hoppla, der Raum ist ja gekrümmt.

Hat zu seinen Lebzeiten kaum einer registriert außer der kleinen Schar hochbegabter Mathematiker, die wussten, was Gauß da angestellt hatte. Auf nur scheinbar planem Feld. Die hannoverschen Lande sind heute noch immer so platt wie zu Gauß` Zeiten. Und trotzdem konnte der berühmteste Geometer der Zeit das Land nur richtig vermessen, weil er sich dessen bewusst war, auf einer gewaltigen Kugel herumzufahren. Dazu brauchte es ein paar neue Formeln und Gedanken. Und die hatten Folgen.

Das Einsteinsche Relativitätskonzept haben nicht die Physiker vorbereitet, so seltsam das klingt. Es waren die Mathematiker. Und die Typen, die sich da mit Bleistift und Papier hinsetzten und atemberaubende Formeln für die neuen Räume aufstellten, sind heute noch berühmt.Zumindest in jenen gesellschaftlichen Kreisen, in denen man weiß, was man mit Mathematik alles anstellen kann. Vier dieser bärtigen Helden der Mathematik sind gleich vorn in diesem ersten Buch der Reihe “EAGLE Archiv” abgebildet: Bernhard Riemann, Hermann Minkowski, Richard Dedekind und David Hilpert.

Riemann, das ist der Bursche, der 1854 noch vom alten Gauß habilitiert wurde. Die Anekdote dazu bringt die Mathematiker bis heute zum Schmunzeln. Denn zu Gauß` Zeiten war es üblich, dass der Aspirant drei Themen vorschlug – der Vorsitzende der Prüfungskommission wählte eines aus, dazu musste der Kandidat dann seinen Vortrag halten. Zwei Themen hatte Riemann schon ausgearbeitet. Aber Gauß mit seinem Näschen für Talente wählte Thema drei aus – und zwang Riemann noch auf den letzten Drücker, das vorgeschlagene Thema auszuarbeiten: “Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen”. Für Riemann ein panischer Moment – für Gauß ein glücklicher. So entlockte er dem Kandidaten eine Arbeit, die ihn glücklich machte.

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Mit der Reihe “Archiv” beginnt EAGLE nun auch wichtige grundlegende (Vor-)Arbeiten für die modernen Naturwissenschaften vorzulegen. Der erste Band war eigentlich schon 2009 konzipiert. Das Geleitwort schrieb Hans Wußing, der über all seinen vielen Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte mittlerweile gestorben ist.

Dieser Band enthält natürlich den Habilitationsvortrag von 1854, ergänzt um einen Riemann-Beitrag für einen Wettbewerb der Pariser Akademie der Wissenschaften, der nur deshalb nicht den Preis bekam, weil Riemann die Berechnungen nicht mit in die Post geben konnte. Und den von Dedekind geschriebenen Lebenslauf von Bernhard Riemann findet man, der 1866, gerade 39 Jahre alt, starb. Natürlich zu früh. Manches, woran er arbeitete, blieb unvollendet. Aber es geht nichts verloren. Denn wenn Ideen erst einmal zu Formeln werden, dann arbeiten die wirklich begabten Mathematiker damit, kitzeln alles heraus, was drin steckt, suchen die Fehlstellen und natürlich die Beweise. Denn anders als in der Politik gilt in der Mathematik nur, was auch beweisbar ist.Und wenn etwas bewiesen ist, ist es Grundlage der nächsten Lösungsansätze. Die dann dazu führen können, dass ein Mathematiker wie Minkowski die Erkenntnisse des eifrig vermessenden Herrn Gauß weiterdenkt: Was bedeutet es eigentlich, wenn gekrümmte Räume der Normalzustand unserer Welt sind und die schöne alte Euklidische Geometrie nur ein Spezialfall ist, nur ein Teilraum der eigentlich real erlebten Geometrie? Was bedeutet das für unser Verständnis von den Dimensionen? Wir waren uns doch nun 2.000 Jahre so sicher, dass es drei gibt, und zwar nur drei. Und nun? Muss man am Ende des 19. Jahrhunderts nicht konsequenterweise anerkennen, dass der dreidimensionale Raum nicht wirklich geeignet ist, die Position eines Objektes zum jeweiligen Zeitpunkt anzugeben, davon ausgehen, dass jeder physikalische Zustand immer vier Dimensionen hat?

Was wiederum Folgen hat. Minkowski wusste es. Und verfolgte aufmerksam die Arbeiten seiner Zeitgenossen Lorentz und Einstein, die es auch wussten. Denn wenn die Zeit als vierte Dimension ins Spiel kommt, hat das Folgen für unser Raum-Denken. – Der Band enthält Minkowskis Vortrag über “Raum und Zeit” aus dem Jahr 1908, gleich gefolgt von David Hilberts Gedächtnisrede auf Minkowski, denn auch Minkowski starb früh – mit 45 Jahren – ein Jahr nach seinem Vortrag.

In einem Essay, den er schon 2004 schrieb, würdigt der Herausgeber Olaf Neumann die beiden Mathematiker und versucht, ihre Arbeiten einzuordnen in den großen Werdeprozess der Speziellen Relativitätstheorie. Insgesamt also ein kleines Grundlagenbuch für alle, die gern nachlesen wollen, wie in der Wissenschaft die großen Theorien heranreifen. Erst mit Riemanns “Räumen in beliebig vielen Dimension”, wie es Einstein ausdrückt, war die Grundlage gelegt für die Schritte, die Minkowski und Einstein hin zur Relativitätstheorie gehen konnten.

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Riemansche Räume und Minkowski-Welt
Olaf Neumann, Edition am Gutenbergplatz Leipzig, 26,50 Euro

Und Einstein benennt die eigentliche Motivation, die Mathematiker immer weiter treibt in Räume, “die nie zuvor ein Mensch gesehen hat” (aus einer bekannten TV-Serie): die Suche nach der “logisch befriedigendsten Form”, um Naturgesetze mathematisch auszudrücken. Sie hören nicht auf, bevor sie diese Form nicht gefunden haben. Und der Laie steht dann da und staunt und begreift trotzdem nur einen Bruchteil. Unter anderem auch, weil er den Weg zu dieser bestechenden Formel nicht kennt.

Ein Stück dieses Wege ist in diesem Buch nachlesbar, stellenweise geradezu formelgespickt. Aber das sind dann immer die Liebesbriefe der Mathematiker an ihre Kollegen: Guck mal, so hab ich das gemacht, so funktioniert es.

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