Mehrere Bücher beschäftigen sich derzeit mit jener Schlacht, die im Oktober 1813 rund um Leipzig tobte. Populärwissenschaftliche, belletristische. Doch wer das Ereignis nur auf die wenigen Tage der Schlacht beschränkt, sieht natürlich das Wichtigste nicht. Nicht das lange und ebenso blutige Vorspiel mit Napoleons Russlandfeldzug, nicht die tödlichen Nachwehen. Und auch nicht das Leid der Menschen, die mitten in diese Todesmaschinerie gerieten. Wie Karl, der Schusterjunge.

Susan Hastings liebt die historischen Inszenierungen. Selbst wenn es nur Liebesgeschichten aus der Antike sind, taucht sie tief in die Geschichtsbücher und die Literatur der Zeit ein, um die Szenerie so glaubhaft wie möglich zu gestalten. Mit zwei Büchern im Plöttner Verlag hat sie auch schon Leipziger Geschichte aufgegriffen – in beiden Fällen als erste. Im “Wollhändler” wurde das Leben von Maximilian Speck von Sternburg lebendig, in “Blauer Staub” das Schicksal einer Leipzigerin, die es vor 100 Jahren nach Südafrika verschlug. Auch das ein authentisches Schicksal.

Mit dem Schusterjungen Karl hat sie nun eine fiktive Gestalt ins Zentrum ihres Romans gestellt, der sich auch nicht auf das Jahr 1813 beschränkt, sondern 1811 ansetzt, als die dramatischen Ereignisse noch in der Zukunft lagen. Aber mit Karl und seinen Zufallsbekanntschaften – dem Tagelöhnersohn Gustav, der Bauerntochter Friederike, dem Kaufmannssohn Heinrich und dem Studenten Philipp – nimmt die Autorin die Leser mit in eine Zeit, in der Leipzig schon seit einigen Jahren von französischen Truppen besetzt ist. Noch geht das Leben seinen Gang, wenn auch auf ärmlichstem Niveau. Gustav muss – weil sein Vater das verdiente Geld lieber in die Kneipe trägt – die Familie ernähren und lässt sich dafür sogar als Spitzel anheuern.Denn in Leipzig rumort es. Die Stimmung gegen den Franzosenkaiser beginnt zu kippen. Die Folgen der Blockade machen sich bemerkbar. Und die Ideen der französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sieht so mancher schon wieder aus anderer Perspektive. Denn wie wirken eigentlich die ständigen neuen Forderungen nach Kontribution? Ständig ist irgendwo Krieg und die Gerüchte um einen Feldzug gegen Russland, bei dem auch sächsische Soldaten mitmarschieren sollen, verdichten sich.

Nur Philipp scheint noch richtig begeistert von den Idealen der Revolution. Er wird dann auch der erste sein, der sich zu den französischen Truppen meldet, als geworben wird für neue Kontingente. Schon das Jahr 1812 sieht Leipzig ächzen unter der Last der Truppenversorgung. Und noch ehe der Herbst 1813 beginnt, erleben auch schon Friederike und ihre Schwester Ulrike die Tragik dieses ewigen Krieges, den Napoleon natürlich nicht aus der Kriegskasse bezahlt. Er trieb die Mittel, um seine immer neuen Feldzüge auszustatten, in den besetzten Ländern ein. Dass die Stimmung europaweit gegen ihn kippte, hat direkt mit dieser Unfähigkeit des Feldherren zu tun auch nur verstehen zu wollen, wie die Lasten seiner Heere von den Völkern in den besetzten Gebieten ertragen und interpretiert werden.

Übrigens eine Unfähigkeit, die militärische Oberbefehlshaber bis heute kennzeichnet.

Karl, der bei Flickschuster Hempel unter kärglichsten Bedingungen lebt, macht sich ebenso seine Gedanken über das alles. Und ist – als auch an ihn die Einberufung kommt – zwar skeptisch, aber durchaus auch unentschieden. Eigentlich war ihm sein kleiner Kosmos genug – mit der Mutter auf ihrem kleinen Gehöft in Möckern (das zur Schlacht im Oktober mitten in die Kämpfe zwischen Franzosen und Preußen gerät), der Bauerntochter Friederike, die seine Liebe (noch) nicht so recht zu erwidern weiß, den durchaus schrulligen Hempels und dem überheblichen Pfarrer Bratfisch, der sein Schwager ist.

Am Ende sind die eben noch am Pleißeufer diskutierenden jungen Männer alle in Uniform. Gustav und Philipp geraten in die Mühlen des Russlandfeldzuges, der im Buch eigene, sehr bildhafte Kapitel bekommt, in denen das Leid der Soldaten, die auf diesem Feldzug zumeist elend krepierten, geschildert wird. Darunter eben auch fast das komplette sächsische Kontingent. Philipp und Gustav kehren zwar zurück und tauchen in den Kämpfen um Leipzig fast geisterhaft wieder auf – doch ihnen ist so wenig ein gutes Ende beschieden wie Heinrich, den es zu den Schillschen Husaren verschlagen hat. Karl überlebt das Inferno, auch wenn ihm das große Morden und der Anblick der Stadt mit ihren Leichenbergen nicht erspart bleiben.Susan Hastings ist es gelungen, die schieren Zahlen dieses Schlachtens in fast apokalyptischen Bildern zu malen. Womit sie der Wirklichkeit vor 200 Jahren wohl recht nahe kommt. Sie zeichnet das, was andere Leute dann als Geschichte bezeichnen, aus der Perspektive der sonst so Namenlosen, derer, die schon Monate vor der Schlacht hungern müssen, weil schon die letzte Ernte requiriert wurde, die die rasant steigenden Preise für Brot und Fleisch schon lange nicht mehr zahlen können. Den Irrsinn der Kriege bekommen zuallererst immer die Ärmsten zu spüren, jene, die keine Reserven haben, die sie anzapfen können, die sofort Not leiden, wenn ein Gouverneur die nächste Kontributionsliste schreibt.

Es ist ein wenig auch das Buch zum Panorama-Bild, das Yadegar Asisi im Sommer zeigen will. Auch er hat sich die in der Schlacht leidende Stadt zum Motiv gewählt.

Aus dieser Perspektive sind all die schönen Schlachtenpanoramen, Uniformen und Feldherren völlig unwichtig und eigentlich auch unsichtbar. Das Leiden, Sterben, Verzweifeln sind elementar. Der Einzelne wird zum Spielball der Ereignisse, kann sich ihnen aber nicht entziehen, während der große General die jungen Leute als Kanonenfutter verheizt. Aus der Perspektive der Generale sind Soldaten keine Menschen, bestenfalls Schachfiguren. Es ist ein sehr emotional geschriebenes Buch, teilweise sehr jugendlich geschrieben – man kann es durchaus auch jungen Leuten schenken, die glauben, eine Militärkarriere wäre etwas Erstrebenswertes. Wenn sie es danach noch denken, ist sowieso Hopfen und Malz verloren.

Es ist auch ein literarisches Plädoyer, endlich einmal die Geschichtsbücher auszumisten und solchen Tyrannen wie Napoleon (der ja danach zum Vorbild für eine ganze Gilde der Tyrannen wurde) die Königsrolle abzusprechen. Königsrolle ganz so, wie mittelalterliche oder altägyptische Darstellungen die Menschen zeigten: die “auserwählten Herrscher” als Riesen, ihre Satrapen halb so groß, der Rest des Volkes zur Mäusegröße geschrumpft. Diese alte, auf Königsrollen fixierte Geschichtsschreibung, hat die Rolle der Völker – ob als zum Kriegsdienst gepresste oder als ausgeplünderte – immer marginalisiert, teilweise sogar komplett aus den Überlieferungen getilgt.

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Schusterjunge Karl
Susan Hastings, Plöttner Verlag 2012, 16,90 Euro

Und es ist durchaus offen, für was diese Schlacht im Oktober 1813 eigentlich steht. Sie war ja nicht einmal der Wendepunkt in diesem Drama, denn ihr gingen – auch und gerade auf sächsischem Grund – schon einige verlustreiche Schlachten zuvor. Doch bei Leipzig wollte Napoleon selbst eine Entscheidung erzwingen. Das ist der Unterschied. Beide Seiten wollten die Entscheidung – und entsprechend rücksichtslos wurden die Truppen in der Schlacht verheizt.

Mit Susan Hastings erlebt der Leser auch mit, wie überfordert die Stadt mit allen Folgen dieser Schlacht war. Wie es an allem fehlte – an Nahrung, Verbandszeug, Lazarettplatz, Hilfspersonal. Und man ahnt zumindest, wie tief die seelischen Wunden ihrer Helden sind am Ende, als zwar die Schlacht vorbei ist, aber auch alles bisherige Leben geplündert. Sie werden damit leben müssen. Aber bei Susan Hastings gibt es dann immer auch noch ein tröstliches letztes Wort: Sie würden es schaffen, der Karl und die Friederike.

Es ist zwar ein sehr jugendlich geschriebenes Buch. Aber keines für zarte Gemüter.

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