In Hamburg geboren, lebt Raymond Dittrich heute zwar in Regensburg in Bayern, arbeitet als Musikwissenschaftler und Bibliothekar, aber Hamburg, der Hafen und das Meer kommen trotzdem immer wieder vor in seinen Gedichten. Nun hat ein zweiter Lyrik-Band von ihm seinen Platz in der "Engelsdorfer Lyrikbibliothek" gefunden. Nur der Titel trügt: Es geht nicht um kriminelle Vorfälle. Nur um das eine Delikt, das jeder begeht: zu sein.

Mit 50 Jahren fängt man sehr wohl schon an darüber nachzudenken, wann einem die “Ermittler in Sachen Leben” den Ausweis zeigen und von dringendem Tatverdacht sprechen. Natürlich ist das Gedicht mit diesem Titel ein philosophisches. Jedes Kind begegnet irgendwann dieser Frage ohne beweisbare Antwort: Wozu das alles? Warum? Warum ich? – Die meisten Menschen werden dann ganz fix das, was man so landläufig erwachsen nennt, haben keine Fragen mehr, aber lauter stereotype Antworten, jede Menge Ausreden und immer weniger Lust, ihre Einstellung zur Welt, zum Ich und dem Leben auch noch um einen Millimeter zu verändern. Fix und fertige Menschen, die die natürlich immer gegenwärtigen Fragen fortan einfach ersäufen – mit all den Mittelchen, die die menschliche Gesellschaft dafür bereithält: Alkohol, Pillen, Fernsehen, Musik, Arbeit, Fresssucht, Gier, Sexismus, Gewalt …Da kann man dann ganz viele Pünktchen setzen. Kann sich jeder was heraussuchen. Es sei denn, er fühlt sich solchen Weitersuchenden wie Dittrich verwandt und lässt die Fragen weiter zu. So beunruhigend sie auch sind. Egal, in welche Richtung man schaut. Besonders beunruhigend ist oft die Frage: Was hat man denn eigentlich erwartet und gewollt? – Manche verzweifeln ja an dem Widerspruch, dass die Träume der Jugend nie erfüllt wurden. Einer wie Dittrich geht die Geschichte im Kopf zurück, dreht sich um und sieht: “Und siehe, / wie damals / leuchtet noch / immer der Anfang.”

Das gilt für das eigene Leben, das sich irgendwann für jeden als fragiler Zustand herausstellt. Was hat man denn erwartet? Manche beginnen dann zu wüten, zu zürnen und zutiefst beleidigt zu sein – die Schuld tragen natürlich dann allerlei obskure Gebilde wie Die Anderen, die Gesellschaft, die Politik oder Die Da Oben. Aber die Wahrheit: Es ist jeder selbst Herr seiner Wege. An denen nirgendwo wirklich richtige Wegweiser stehen. Woher sollten sie auch kommen? Die Klarheiten und Wahrheiten, die einige Leute versprechen, sind allemal Trug. “Gib’s nur zu: / Du hast die Orientierung verloren. / Auch über Ort und Zeit …”

“Nebel” heißt dieses Gedicht, in dem am Ende durchaus ein gewisser Herr mit Tweedmütze auftauchen könnte, der mit seiner unvergleichlichen Kombinationsgabe “ein Stück Klarheit / in diese Trübung tragen / und den Vorhang einen Spalt weit /” lüften könnte. Aber der Mann taucht in solchen Situationen bekanntlich nie auf. Der Nebel gehört zu unserem Sein hienieden. Mal ganz abgesehen davon, dass der ach so moderne Mensch gerade eben erst aus seinen Mammutfellen schlüpfte. Das vergisst man ja gern: Wie dünn der Lack der so genannten Zivilisation ist.

“Wir stehen am Anfang, / und gerade / wurde das Feuer / erfunden.”

Das Feuer, das in diversen alten Mythen immer auch gleichgesetzt wird mit dem Licht der Erkenntnis. Vor dem sich ein gut Teil der Mitmenschheit mehr fürchtet als vor Zensur und Denkverboten. Es steckt was dahinter. Natürlich. Und die Aufklärer im 18. Jahrhundert ahnten das. Und merkten schnell, wie sich selbst kluge Zeitgenossen Kopf über Hals, Hose über Knopf in Spiritualismus und Dunkelmännertum stürzten. Trage mal einer ein Licht durch die Menge, ohne einem den Bart zu versengen.

Die beunruhigenden Fragen – die in jeder Wissenschaft natürlich genau das Juckpulver sind, das Forscher dazu bringt, immer weiter zu forschen – die machen ein Menschenleben unruhig. Was passiert, wenn ich das Rumoren nicht abstelle? Da werde ich doch irre!Die Angst hat mancher. Und wird sie nicht los, weil er sich ihr nicht stellt.

Aber Ausbüxen ist Feigheit. Einer wie Dittrich weiß es. Deswegen ist er Dichter. Viel mehr als etliche Leute, die sich im Lande als Dichter feiern lassen. Er ist wirklich einer, schaut hin, stellt sich Fragen und lässt auch die kleinen Kurzschlüsse der Gedanken zu, die manchmal so erhellend sind. Was Gedichte tatsächlich erst zu Gedichten macht: der aufmerksam erfasste Moment, dieses Hoppla!, das aus einem Augenblick eine kleine Verblüffung macht.

Mal angemerkt für alle, die immer noch glauben, das Interpretations-Gehampel in Schullesebüchern habe etwas mit dem Erkennen von Dichtung zu tun.

Dichtung ist eine von Grund auf neugierige und für Überraschungen offenen Begegnung mit der Welt – die die Pointen zulässt. Und das, was passiert, wenn man wirklich einmal einen Blick hinter die Kulissen erhascht. Wer wirklich dichten will, darf keine Angst vor der Wahrheit haben. Was sieht einer wie Dittrich, wenn er ins Militärmuseum geht? – “Utensilien des Todes / (und seiner künstlichen Erzeugung) / aus mehr als sechs Jahrhunderten. // Als Kulturgeschichte getarnt.”

Wer so durch die Welt läuft, der braucht die tägliche Berauschung nicht. Der hat auch so viel Angst nicht mehr, weil er weiß, dass die Kulissen fragil sind. Und er hat auch keine Angst mehr, sich auf die Kunst unserer Zeitalter einzulassen – Musik, Malerei. Selbst all jenen Museen unterwegs widmet er sich, die den Ängstlichen so dröge vorkommen, so ohne Leben. Aber einer wie Dittrich lässt die Verwirrung auch vor der Vitrine mit dem Jahrtausende alten Skelett zu. “Heute können wir den Blick / nicht von ihm wenden, // weil wir uns selbst erkannt haben / in seinen aufmerksamen, / uns zugewandten Augenhöhlen.”

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Täglicher Tatort
Raymond Dittrich, Engelsdorfer Verlag 2013, 9,95 Euro

Sind ja ganz bestimmt dieselben Fragen, Ängste und Ratlosigkeiten, die auch damals schon die Menschen bewegten – jene zumindest, die nicht damit beschäftigt waren, die alkoholische Gärung an allem auszuprobieren, was sich irgendwie zum Gären eignete. Besessen von der Angst vor den Abgründen, die dieses viel zu hochgetunte Gehirn auf einmal ringsherum entdeckte, auf der hastigen Suche nach irgendetwas, das irgendwie trügerischen Schutz bot gegen diese Unendlichkeit. “Wie die Planken / zwischen dir und / der Tiefe.” (“Flussschifferkirche”)

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