Wahrscheinlich würde Gryphius Kopfschmerzen bekommen, Dante und Shakespeare würden an der Welt zweifeln. Die Welt des Gedichteschreibens hat sich verändert. Die Schwerpunkte haben sich verschoben, die enge Verzahnung von Inhalt und Form, die noch für das Barock zwingend war, hat sich in Moderne, Postmoderne, Post-Mortem-Moderne völlig aufgelöst. Nicht alles, wo Gedicht draufsteht, ist noch Gedicht. Aber zurück fährt dieser Zug nimmermehr.
Das ist nicht schlimm. Es öffnet Räume zum Ausprobieren, zur Suche nach neuen Möglichkeiten. Und es zwingt zu Qualität, auch wenn das seltsam klingt und schon die schiere Zahl der jährlich in Deutschland veröffentlichten Bücher eines garantiert: Es ist bergeweise Ungenügendes dabei. Davon wird nicht viel bleiben.
Und auch von der Spoken-Word-Szene wird nur eine Auswahl bleiben, wieder aufgelegt, rezitiert und gelesen werden. Die Szene lebt vom Tag und vom Spiel mit der Sprache. Der graduierte Philosoph Jan Lindner aus Jena gehört zu dieser Szene. Auch wenn er da in gewisser Weise ein Exot ist. Denn er hat sich intensiv mit klassischen Gedichtformen und ihrer strengen Anwendung beschäftigt. “Reimzwang” heißt die spezielle Edition bei Periplaneta, in der die Lyrik dort erscheint. Reime gehören bei Jan Lindner dazu. Er genießt das Spiel mit den strengen Formen. Wohl auch gerade deshalb, weil sie so alt wirken in einer Zeit, wo scheinbar alles offen und möglich ist.
Der Band enthält mehrere dieser strengen Gedichtformen, mit denen Lyriker immer wieder ihre Freude hatten: Schüttelreime, Limericks und zwei große Sonettenkränze, die das Spiel mit der strengsten aller Formen bis auf die Spitze treiben. Bis hin zum Meistersonett, in dem die Anfangszeilen der 14 vorhergehenden Sonette in ihrer Reihenfolge wieder aufgenommen werden und ein neues Sonett ergeben. Kleiner Verdacht dabei: Jan Lindner hat mit den beiden Meistersonetten angefangen und dann die 14 Sonette für den Kranz geschrieben.
Das ist wie ein Wettbewerb, dem sich der Autor stellt: Fällt ihm zu den nun einmal vorgegebenen Versen wieder was ein, das als eigenes Gedicht funktioniert und sich wieder schließt, weil es am Ende Vers Nr. 2 ergibt, der das nächste Sonett folgen lässt? Und: Ergibt das wieder Sinn? Korrespondieren die 14 Kranz-Sonette miteinander, werden sie auch inhaltlich ein Kranz? – Der Versuch ist es wert. Der Versuch hat aber auch Folgen, die man selbst aus den Werken der großen Meister der Form kennt: Wenn die Form zwingend ist, bleibt nicht viel Spielraum, dem Gang der Assoziationen zu folgen. Man muss im Maß bleiben, im Vers- und Reimmaß. Das bringt Dinge an die Oberfläche. Fast zwangsweise.
In diesem Fall: das, was den Autor selbst umtreibt. Er möchte ja nicht gern als wandelnder Philosoph bezeichnet werden. Aber was beschäftigt Autoren, wenn nicht das große Nachdenken über das Leben – und den ganzen Rest? Auch wenn einer erst 27 ist. Oder schon 27. Da hat das Leben in der Regel aufgehört, unendlich zu sein. Da denkt man schon – zumindest ganz, ganz vorsichtig – ans Ältersein. Davon lebt in diesem Fall Sonettenkranz Nr. 2 – “Am Schwarzen Tor”, in dem der Tod zwei Gestalten vereint – den Jungen mit seinem Teddybären im Auto, das in einen Unfall verwickelt wird, und den Alten “vorm schwarzen Tor”. Flashbacks verbinden das Jetzt und das Es-war-einmal. So, wie Flashbacks die Erinnerung der Alten mit den fernen, metaphysischen Momenten der Kindheit verbinden. Alles ist miteinander verbandelt. Aber zurück kann keiner. Nichts ändern, nichts wieder gut machen.
Der Bursche will kein Philosoph sein?
Glaub das mal einer.
Und auch im ersten Sonettenkranz “Die Siedlung am Fluss” geht es um Zeit und Vergänglichkeit – und um das Gefährdetsein alles Tuns. In diesem Fall: dem, was die Bewohner einer kleinen Stadt am Fluss tun in dem Moment, als das Unheil über die Stadt hereinschwemmt – als große Flut. Die Bilder changieren – es könnte auch der Krieg sein, der mit gesichtslosen Söldnern in die Stadt marschiert. Oder der Berg, der zerstörerisch über die Kinder, die Alten, die Angler, die Briefeschreiberinnen kommt. Eben noch ein Liebesbrief voller Bedauern – und dann schon die schöne Wasserleiche? Ein bisschen Poe, ein bisschen Hamlet … -aber irgendwie auch das, was die Menschheit tagtäglich auf allen Kanälen beglückt. Die große Zerstörung, die andere heimsucht, kann auch unversehens hier passieren, in der scheinbar so geschichtslosen Stadt am Fluss. Mitten im gedankenlosen Tun. Und das durchaus mit der Wortwucht des Expressionismus. Die findet man bei Lindner. Er genießt sie. Er hat keine Scheu vor satten Worten. Er säuselt nicht. Er spielt lieber.
Unüberlesbar: Er mag diese Sprache und ihren Reichtum. Was ihn von Hunderten zeitgenössischer Autoren wohlwollend unterscheidet.
Moritaten, Limericks und schaurige Reime: Ein Suppenkasper gibt den Löffel ab
Auf den Lesebühnen dieser Welt gelten …
Hieb- und Stichfest: Die gedruckte Erinnerung an einen legendären Sonett-Streit anno 1995
Der kleine Leipziger Verlag Reinecke & Voß …
Paul-Henri Campbells Großer Gesang auf das Zeitalter der Raumfahrt: Space Race
Paul-Henri Campbell ist ein Weltenwanderer …
Er mag auch ihre Tücken, Fallstricke und Zweideutigkeiten. Das zuckersüße Mädchen kann Vieles sein – Madame und Bettelkind. Das Spielen am Fluss kann zum Aufbruch werden zur großen Fahrt. Manche Bilder grell, drastisch überzeichnet. Fast boshaft dick der Farbauftrag. Der Autor geht verbal – so scheint’s – auf Distanz. Und malt doch alles plastisch genau. Er kann den Blick nicht abwenden. Die Zerstörung fasziniert ihn. Es steckt was dahinter, so wie auch bei den Expressionisten was dahinter steckte. So eine Ahnung, ein großes Ungeheures haut den so scheinbar banalen Moment zu klump.
Auf der beigelegten CD liest Lindner seine Gedichte.
So eine Art Vorwort gibt es noch – “Zum tröstenden Geleit”. Aber das kann man sich schenken. Es führt den Leser nur in die Irre. Suggeriert auch eine Untröstbarkeit, die die Gedichte gar nicht haben. Auch wenn Lindner mit Endzeit-Motiven spielt. Na und? – So ist unser Dasein hier auf Erden. Es gibt nichts, was uns vor dem Finale schützt. Und Manches, was wir dabei tun und erleben, wirkt mit dem distanzierten Blick des Autors natürlich banal, skurril, hilflos, irritierend …
Der Teddy mit den losen Kulleraugen
Jan Lindner, Edition Reimzwang 2013, 12,50 Euro
Aber auch davon lebt das, was Lindner mit seinen Gedichten macht: Von der ironischen Distanz. Die böse sein kann, an vielen Stellen auch makaber. Das gehört zum Spiel. Und es scheint zu funktionieren. Auch auf den Bühnen, auf denen Lindner auftritt. Das ist was für Zuhörer, die sich gern gruseln lassen, mitreißen lassen von Gedichten, die noch spielen mit unserer Sprache und nicht so tun, als sei deftig kein Wort für den Wortgebrauch.
Am 16. März ist Lindner beim “Messe Slam” der HTWK zur Leipziger Buchmesse zu erleben.
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