Kaum drei Jahre her, schon wieder fast vergessen, dass es im Alten Rathaus 2009 eine Ausstellung zum Jubiläum der Uni Leipzig gab, die ein ganz besonderes Jahrhundert herausgriff aus diesen 600 Jahren - das 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der Aufklärung. Und wer's vorher nicht wusste, konnte eindrucksvoll sehen, wie Leipzigs Gelehrte beitrugen zur "Erleuchtung der Welt."

Wer’s verpasst hat, ist selber schuld. So eine Ausstellung wird Leipzig auf Jahre nicht wieder bekommen. Und die nun seit 2011 gezeigte Ausstellung zur Leipziger Moderne am gleichen Ort macht auch deutlich, wie schwer sich Museumsmacher tun können, um große Zeitenumbrüche komprimiert sichtbar zu machen. Je öfter man sich diese “Moderne” mit all ihren interaktiven Spielplätzen betrachtet, umso mehr hat man das Gefühl, da wurde zu viel gewollt, da wurde zu viel hineingestopft. Und das halbe 20. Jahrhundert ist nicht einmal zu etwas wissenschaftlich Fassbaren geronnen, mehr Nachrichteninszenierung als objektive Annäherung.

Jetzt haben wir ja wieder was gesagt.

Aber das Bauchgefühl trügt eher selten, wenn es um solche Dinge geht. Der Unterschied ist zu eklatant. Wahrscheinlich ist es wirklich so, dass die tragenden Generationen erst im Grab liegen müssen (wenn sie da noch liegen), bis die Historiker Zeiten, Personen, Fakten und Verbindungen einigermaßen emotionslos und mit kühler Distanz einordnen können.

Die starke Konzentration 2009 auf das 18. Jahrhundert sorgte auch dafür, dass sich dutzende Begleitpublikationen zur Universitätsgeschichte genau mit diesem Jahrhundert der Aufklärung in Leipzig beschäftigten. Es gab mehrere Bücher über das Studentenleben in dieser Zeit, über die Integration der Universität in die Stadt, das Schulwesen der Zeit und seine Reform, Vieles auch zu Arbeits- und Lebensbedingungen der Forscher und Gelehrten. Schon die Ausstellung im Rathaus zeigte eindrucksvoll, wie eng verwoben das Leben der Professoren mit dem Kultur- und Geistesleben der Stadt war. Es lag eigentlich nahe, dass sich eine emsige Leipziger Forscherin einmal umfassender mit dem Leben der Professoren und mit den augenscheinlich in Wissenschaftlerkreisen bis heute gepflegten Vorurteilen beschäftigte.

Es ist ja in der Geschichtswissenschaft wie in anderen Wissenschaften auch: Ein Forscher stellt eine These auf, versucht sie mit Archivbelegen zu untermauern, veröffentlicht sie als Buch. Und dann ist die These so lange in der Welt, bis ein anderer Forscher neue Quellen auftut, die die These fragwürdig machen, eine neue These aufstellt und sie mit neuem Faktenmaterial untermauert. Pech für die Leser: Bis der neue Forscher sich traut, vergehen oft 100 Jahre. Was – man sieht es am Beispiel der Uni Leipzig – schlicht und ergreifend mit den Jubiläen zusammenhängt. Es gibt – das konstatiert Theresa Schmotz gleich im Vorspann – praktisch an keiner deutschen Hochschule einen Lehrstuhl, der sich konsequent mit Hochschulgeschichte beschäftigt. Deshalb gibt es aller 100 (manchmal auch aller 50) Jahre einen kleinen Aufstand, eine tapfere Geldspende vom Land, und alle verfügbaren Assistenten, Doktoranden, Studierenden der Geschichtswissenschaft schwärmen aus in die Archive, wälzen die alten Pandekten, klären neue und alte Fragen, erzählen die Hochschulgeschichte aus neuem Blickwinkel.Und stürzen dabei zwangsläufig auch ein paar 50, 100 Jahre alte Thesen um. Was den Leser, der ja nun 2009 diese eindrucksvolle Schau gesehen und seither dutzende Bücher dazu gelesen hat, natürlich verblüfft. Und noch weiter verblüffen wird, wenn nämlich demnächst wieder neue Bücher zur Leipziger Stadtgeschichte erscheinen und der alte Quark von 1913 oder 1909 drin steht. Da ist die Wissenschaft so um ungefähr 50 Jahre schneller als die Sippe der populärwissenschaftlichen Geschichtskolporteure.

Welche Thesen Theresa Schmotz alle widerlegt, hat sie gleich im Vorspann gründlich dargelegt. Es geht um die Versippschaftung der Leipziger Professoren, die Okkupation verschiedener Lehrstühle durch bestimmte Professorenfamilien, die starke Vermauerung der Lehrstühle gegen Auswärtige und ähnlichen Mumpitz, der über Jahrhunderte durch die Gelehrtenwerke schwappte. Wie widerlegt man Mumpitz? – Man kniet sich in die Papiere, die vom wirklichen Leben der Professoren erzählen: Testamente, Nachlassinventare, Schöppenbücher, Taufregister, Universitätsgerichtsakten und Leichenpredigten. Zum Beispiel.

Da steht nämlich, wer mit wem verschwippt und verschwägert war, wer wen heiratete, wer bei wem Pate wurde, woher einer kam und wie alt er war, als er endlich heiraten durfte. Es ist ja heute wieder ein wenig so wie damals: Geheiratet werden konnte erst, wenn der Ernährer der Familie ein gesichertes Einkommen hatte, das auch Frau und Kinder miternährte. Es gibt ja heute wieder eine Menge Leute, die glauben, dass Männer und Frauen nicht heiraten und zu spät Kinder kriegen, weil sie irgendeinen ideologischen Fimmel im Kopf haben, irgendwelche falschen liberalen Lebensvorstellungen.

Dass heute erst mit 30 (oder gar nicht) geheiratet wird und auch die Kinder nicht früher kommen, hat aber den selben Grund, der Leipziger Professoren im 18. Jahrhundert erst mit 35, 40 Jahren heiraten ließ: Es ist die späte, oft viel zu späte Ankunft in einem finanziell sicheren Beschäftigungsverhältnis. Viel jünger waren natürlich die Frauen, in der Regel sogar noch Mädchen nach unseren Maßstäben: 15, 16 Jahre alt, oft die Töchter aus bekannten und befreundeten Gelehrten- aber auch Kaufmannsfamilien. Der Grund ist dann auch wieder in vielen Leichenpredigten zu lesen: die jungen Frauen starben früh, meist im Kindbett. Mit 21, 23 Jahren war das blühende Leben beendet.

Was umso tragischer wirkt aus der zeitlichen Distanz, als dass diese Frauen meist auch klug waren, für ihre Zeit sogar überdurchschnittlich klug, denn gerade in den Professorenfamilien erhielten auch die Mädchen eine gute Ausbildung, wurden von Hauslehrern oder auch ihren Vätern unterrichtet. Einige dieser jungen Frauen, die das höhere Alter erreichen durften, kennen wir ja heute noch (und wieder): die Gottschedin, die Zieglerin, die Naubert.

Und was auch schon verschiedene Biografien zu Gelehrten dieser Zeit zeigten, wird auch wieder deutlich: Nicht nur die Stadt Leipzig lebte vom permanenten Zuzug kluger Köpfe und wagemutiger Kaufleute, auch die Uni Leipzig war so attraktiv, dass sie nicht nur Studenten, sondern auch Dozenten aus allen deutschen Landen anzog. Die hier nicht nur den oft mühseligen Weg zu einer ordentlichen Professur anstrebten, sondern auch profitierten von einem funktionierenden Netzwerk der Gelehrten. Wer sich engagierte, fand den Kontakt zu diesen Netzwerken, wurde auch Mitglied einiger der berühmten Societäten. Mancher, der aus ärmsten Verhältnissen nach Leipzig kam, schaffte es sogar, sich einzuheiraten in eine der etablierten Familien. Was nicht bedeutete, dass alle Professoren reich wurden. Auch wenn einige Professorenfamilien auch zur reichen Oberschicht der Stadt gehörten und Häuser an den wichtigen Straßen besaßen. Andere lebten bis ans Lebensende unter kärglichen Verhältnissen. Das Vergütungswesen war komplex und stark hierarchisch abgestuft. Einige Beispielrechnungen im Buch zeigen, wie sich einige Professoren noch das Einkommen zusätzlich aufbesserten.

Einige – wie etwa der berühmte Gellert – konnten von ihrer Professur allein gar nicht leben und waren auf die Unterstützung ihrer Gönner angewiesen. Dabei schien Gellert nur einmal kurz darüber nachgedacht zu haben zu heiraten – und blieb dann wohl aus simplen finanziellen Überlegungen heraus doch lieber Single. Der Single ist eben keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Aber wer erzählt den zuständigen Politikern, wo die Gründe dafür liegen? – Natürlich ermöglicht es die moderne Sicht auf die beiden zurückliegenden Jahrhunderte, solche Dinge auch zu erkennen.Auch wenn bislang keine verlässlichen Grundlagenarbeiten zu den Einkommen der damaligen Universitätsangehörigen vorliegen. Das, was man dazu weiß, ist genauso lückenhaft wie das, was man über die Einkommensverhältnisse der anderen Leipziger weiß. Nur in Einzelfällen künden zum Beispiel detaillierte Nachlässe davon, was die Professoren oder ihre Witwen tatsächlich besaßen. Teilweise lässt es Rückschlüsse zu auf den gesamten Hausrat. Und wenn man so beiläufig erfährt, dass es auch in den besseren Haushalten nur zwei Mal im Jahr große Wäsche gab, dann ahnt man, warum so viele junge Frauen im Kindbett starben. Aber es war eben auch die Zeit, in der die Aufklärung auch die Naturwissenschaften revolutionierte – die Früchte erntete dann das 19. Jahrhundert. Auch die Überlieferungen zu den damals entstehenden Sammlungen und Naturalienkabinetten zeugen davon.

Immerhin war es erst 1701 gewesen, dass der aus einer Gelehrtenfamilie stammende Franz Conrad Romanus die Leipziger Stadtbeleuchtung auf den Weg gebracht hatte. Und aus einem alten Streifall erfährt man, dass die Kloaken der Häuser sich damals alle noch in den Hinterhöfen befanden und regelmäßig gelehrt werden mussten. Die Häuser wurden zwar immer stattlicher – waren aber kaum ordentlich zu beheizen. Das Heizmaterial war Holz, und das war teuer.

Man taucht mit Theresa Schmotz stellenweise tief in das wirkliche Leben im Leben des 17. / 18. Jahrhunderts ein, in die Haushalte mit all ihren streng definierten Rollen, aber auch in die damals modernen Netzwerke, die entstanden. “Social media” ist ja keine Erfindungen irgendwelcher US-amerikanischer Geschäftemacher. Die Zeit der Aufklärung hatte schon einen immensen Bedarf an schnellem und hochkarätigem Gedankenaustausch. Das Briefwesen in der europäischen Gelehrtenrepublik (Klopstock) erlebte eine Blüte, in Leipzig wurde das erste Wissenschaftsmagazin aus der Taufe gehoben, das die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Kontinent verbreitete, das erste große Lexikon wurde mit teilweise selbstausbeuterischen Methoden geschaffen und neben den wissenschaftlichen Societäten entstanden die Salons, Kaffeehäuser und Kaffeetafeln, wo sich das gebildete Bürgertum der Stadt traf.

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Die Leipziger Professorenfamilien
im 17. und 18. Jahrhundert

Theresa Schmotz, Franz Steiner Verlag 2012, 89,00 Euro

Und selbst die berühmten wissenschaftlichen Fehden der Zeit werden thematisiert. Hinter dem “Geschrei und Geplerr” steckt auch etwas, was selbst im 21. Jahrhundert von einigen Leuten nicht wirklich begriffen wird: eine Selbstkorrektur der Wissenschaften. Denn alte Standards, die die Sicht auf neue Entwicklungen versperren, müssen zuweilen in hartem wissenschaftlichem Dissenz gestürzt werden. Manchmal trifft das auch kluge Leute, die noch 20 Jahre zuvor selbst die Wissenschaft revolutioniert haben – wie es Gottsched geschah.

Dem 270 Seiten dicken Studienteil hat die Autorin dann noch einmal genau so viele Seiten mit Fakten und Daten angehängt, die dem Leser ermöglichen, selbst in die Lebensumstände der Professoren und ihrer Angehörigen einzutauchen. Zu 93 Professorenfamilien hat Theresa Schmotz die Stammbäume mitgeliefert. Das ist eine Menge Futter für jeden, der wissen will, wie hart das Leben eines Gelehrten im Leipzig der Leibniz-, Lessing- und Goethezeit war.

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