Wenn eine Reise in die Vergangenheit mehr ist als das Runterreißen von Kriegsverläufen und Jahreszahlen, wenn Geschichte in viele kleine Geschichten zerfällt, die zusammen einen Eindruck von der Vergangenheit ergeben, dann ist Geschichte wertvoll. Das Buch "1913 - Der Sommer des Jahrhunderts" schafft genau das.
Ein bierernster akademischer Würdenträger der Geschichte, Germanistik oder Kunstgeschichte wird den derzeitigen Bestseller der Bestseller der Sachbücher laut “Spiegel” sicherlich nach 15 Seiten ganz unten ins Regal stellen und sich persönlich beleidigt fühlen. Denn Autor Florian Illies, seines Zeichens Magister Artium Kunstgeschichte und Neuere Geschichte und Ressortleiter Feuilleton bei “Die Zeit” sieht das Jahr 1913 durch seine eigene Brille, bei der nur über den rechten oder linken Gläserrand bloße Fakten ins Auge fallen. Nein, Florian Illies sieht durch seine Brille ein (Jahres-)Panorama mit vielen kleinen Einzelgeschichten, die mehr sind als Anekdoten, auch wenn sie gelegentlich trivial anmuten. “1913” ist der Eintritt in die Parallelität der Geschichte, in die Welt der Zusammenhänge, der Blick hinter die Fassade einer Jahreszahl. Wer sich von diesem Buch bare Fakten der Politikgeschichte erhofft, sollte es besser stehen lassen.
Illies hat sich für sein Buch mehrere Personen der damaligen und der kommenden Zeitgeschichte ausgespäht, deren Leben er über das ganze Jahre begleitet: Maler wie beispielsweise Max Liebermann, Oskar Kokoschka, Ernst Ludwig Kirchner, Literaten wie Thomas und Heinrich Mann, Rainer Maria Rilke, Else Lasker-Schüler, Georg Trakl oder Robert Musil, Wissenschaftler wie Sigmund Freud und C.G. Jung oder baldige Tyrannen wie Stalin oder Adolf Hitler. Liste unvollständig. Er muss jahrelang in ihren Hinterlassenschaften geblättert und gelesen haben, denn erfunden hater bis auf die Ausschmückung der einzelnen Szenen nichts.
Handel und Wandel in Leipzig 1913 – Der neue Kalender für Leipzig-Freunde ist da
Hätte ich nicht gedacht, dass wir das immer …
Ein 100 Jahre alter Streit: Die Geburtsstunde des Kurt Wolff Verlages
Vor 100 Jahren gab es richtig Zoff …
Ein Streifzug durch das frühe 20. Jahrhundert: Leipzig – Transit
Manche Legende über die schöne Stadt …
In Episoden von wenigen Zeilen bis zu mehreren Seiten berichtet Illies nun über das, was diese Personen Monat für Monat beschäftigt. Klingt nicht sonderlich spannend, Illies überzeugt Zweifler mit seinem Schreibstil. So kommt er immer wieder auf Oskar Kokoschka und seine heißgeliebte Alma Mahler zu besprechen, illustriert hell und dunkel wie sehr die beiden einander ergeben sind, wie sehr Kokoschka um Mahler kämpft, die es aber schließlich zu Walter Gropius hinzieht. Gleichzeitig wirbt Franz Kafka jeden Monat um seine Felice, macht ihr schließlich postalisch einen Heiratsantrag in dem er alles dafür tut, dass Felice jeden, bloß nicht ihn heiraten würde. Nebenbei fügt sich das Puzzle der Beziehungen innerhalb der damaligen Avantgarde zusammen, man kennt sich, trifft sich, beleidigt sich auch mal. Dr. Alfred Döblin versucht den seelischen Problemen Else Lasker-Schülers mit Morphium beizukommen, Franz Marc versteigert Gemälde für die verarmte Dichterin – übrigens floppt die Versteigerung, heute wären die Bilder 100 Millionen Euro wert, wie Illies nebenbei erwähnt – Freud fällt in Ohnmacht, weil er ein Wiedersehen mit seinem Konkurrenten C.G. Jung fürchtet. Ja und auch Leipzig spielt in diesem Beziehungsgeflecht eine Rolle: Der verzweifelte österreichische Lyriker Georg Trakl erhält in schwerster seelischer Not eine Anfrage vom hiesigen Kurt Wolff Verlag, wo wiederum Franz Werfel als Lektor arbeitet. Die Stelle hat ihm der Kafka-Vertraute Max Brod vermittelt.
Illies beschreibt diese Verbindungen verständlich, auch wenn bei der Flut der Personen nicht immer klar ist, wer nun wer war. Vor allem für diejenigen, die in der Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht so bewandert sind, gestaltet sich die Vergegenwärtigung der Verbindungen deutlich schwerer als bei einer Seifenoper. Ein Glück, möchte man gleichzeitig auch sagen.
1913. Der Sommer des Jahrhunderts
Florian Illies, S. Fischer Verlag 2012, 17,99 Euro
Aber ist es Wissen, was Illies vermitteln will? Zuallererst ist es wohl ein Eindruck. Kaum eine seiner Hauptpersonen ist in diesem Jahr die Freude in Person, viele haben ihre eigenen Probleme und die haben – nicht nur, aber auch – mit der Zukunft zu tun. Wie sieht die Zukunft der Kunst aus? Ist das Abendland gefährdet? Das Jahr 1913 ist das Scharnierstück zwischen dem langen 19. Jahrhundert und dem kurzen 20. Jahrhundert. Es ist das Jahr, in dem Oswald Spengler an seinem Aufsatz “Der Untergang des Abendlands” arbeitet, dessen Titel auf einen Niedergang, nicht auf ein Ende hinweist. Hat da jemand den richtigen Riecher gehabt? Beim Studium des Buches wird klar, dass Spengler nicht der einzige ist, der bemerkt, dass sich etwas zusammenbraut. Ist vielleicht keine Überraschung, aber Illies vergegenwärtigt dies immer wieder und vermittelt so einen kostbaren Eindruck von einem Jahr, das bis dato im Schatten seines Folgejahres lag. Und er zeigt, dass hinter der Fassade eines Jahres deutlich mehr steckt als Fakten, auch wenn die Perspektive auf die Prominenz sehr einseitig ist – aber das war beim Studium seiner Vita auch zu erwarten.
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