Titel können so irreführend sein. Waschzettel auch. "Die Bilder, die Wörter, das Schiff", das ist ein Romantitel, der gar keiner ist. Wer die Lupe nimmt, findet das alles in diesem Buch, das eigentlich ein Roman in Briefen ist. Ein Briefroman eher nicht. Ein Roman über die Phantasie und über eine gemeinsame Geschichte.

Denn Peter Gehrisch, geboren 1942 in Dresden, ist Grenzgänger. Nicht nur als Dichter, Übersetzer und Herausgeber. Er macht tatsächlich, was andere nur gern täten, wenn sie sich trauten: Er lebt in zwei Ländern und zwei Welten – in Dresden und Lwówek Slaski, dem ehemaligen Löwenberg in Schlesien, das seit 20 Jahren, seit auch die Sache mit der Neißegrenze endlich eine verlässliche Sache zu sein scheint, regelrecht aufblüht.

Gehrisch nennt seinen Helden Einarr Aichlein. Das klingt wie eine Gestalt aus Hoffmanns Erzählungen (Herr Hoffman wird natürlich auch erwähnt), ein bisschen auch nach Wilhelm Raabe oder Uwe Johnson (Letzterer taucht wie erwartet auch auf, genauso wie Johannes Bobrowski, obwohl der eine aus Pommern stammt und der andere aus Ostpreußen). Was schon ahnen lässt, dass es hier um mehr geht als einen zufälligen phantasievollen Ausflug in die Literaturgeschichte, in der dann ein bärtiger Seemann namens Odysseus auftaucht. Womit man beim Schiff wäre.

Tatsächlich geht es eher um mindestens drei literaturverliebte Herren – angefangen mit Herrn Aichlein selbst, der schon in seinen ersten Briefen aus Lwowek phantasievoll Grenzen überschreitet, sich aber trotzdem irgendwie rastlos und unerfüllt fühlt. Obwohl er mit Gienek phantasievoll plaudern kann – aber der Horizonterweiterung, die ihm dann der “Homo-, Pomo- und Toxikologe” Henryk Sanguinicus anbietet, indem er ihm ein Gläschen mit Engelstrompete (“Brugmansia sanguinea”) anbietet, kann er nicht widerstehen. Das Ergebnis sind dann ungefähr 30 Briefe, in denen Aichlein regelrecht abhebt und abtaucht. Dass die Dosis für einen jungen Mann deutlich zu stark war, erfährt er dann viel später. Aber da hat er die Tour schon hinter sich, die eigentlich eine Reise durch deutsch-polnische Literaturgeschichte ist. In Schlesien vermischt sich da ja alles sowieso. Und Gestalten wie Gerhart Hauptmann und Eichendorff leben hier quasi nebenan.

Und wer ein bisschen eintaucht in die schlesische Literatur, weiß auch, dass sie zeitweise die wichtigste und eindrucksvollste im ganzen deutschen Sprachraum war. Opitz wäre hier stellvertretend zu nennen. Doch Gehrisch wäre nicht Gehrisch, wenn er auch hier nicht die Grenzen überschritte. Denn seit Jahren übersetzt er mit Fleiß die großen polnischen Dichter der Moderne ins Deutsche. Er kann also hin und her springen, sich von Bildern und Versen treiben lassen. Und wo er schon einmal dabei ist, den polnischen Dichtern nachzulauschen, da kann er ihnen auch gleich nachlaufen. Und so reist er in seiner brieflichen Phantasie von Lwowek immer weiter nach Osten über Poznan, Krakow bis Gdynia, begegnet unterwegs freilich auch immer wieder Autoren der deutschen Literatur. Und der eigenen Familiengeschichte. Denn deren Wurzeln liegen in Schlesien – die Familie wurde nach dem 2. Weltkrieg vertrieben.

So etwas kann trennen – oder verbinden. Und Gehrisch sieht darin das Verbindende. “Zwei Jahrzehnte Freundschaft, Besuche, Austausch selbst über heikelste Themen …” Ein “Wechselbad der Gefühle”, wie er es nennt. Das noch eine zusätzliche Note bekommt durch Aichleins/Gehrischs “Groll auf die Lebensumstände der DDR, in der ich mich damals – mehr oder minder zu Hause fühlte”. In DDR-Zeiten war er als Lehrer tätig. Und so ist auch Dorothea (Dora), der er seine Briefe schickt, eine alte Bekannte aus der Pädagogenzeit.

Selbst Gehrischs Erlebnisse als Literaturkritiker beim “Sonntag” (der 1990 im neu gegründeten “Freitag” aufging) klingen kurz an – ein kurzer Moment, in dem die Reformen Gorbatschows zur Debatte stehen, das Ende des “Sonntag” und die einstige Machtfülle von Hermann Kant, dem Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes. Was ahnen lässt, warum Gehrisch nicht einfach eine lineare Biographie geschrieben hat, sondern seine Literaturen und seine Geschichtserfahrungen in einen fast halluzinogenen Roman geworfen hat.

Engelstrompete.

Als wenn das so einer brauchte. Oder sein eigenartiger Prof. Sanguinikus, der die Bücher in seiner Wohnung aufgestapelt hat wie in einem griechischen Theater, die Autoren jederzeit griffbereit, obwohl er das augenscheinlich gar nicht mehr braucht. Er hat das alles im Kopf. Und da begegnen sich die Welten und die Autoren. “Das ist ja ein Aufgang durch die Kulturen hindurch mit Wendeln aus flüchtigen Wörtern und, weiß der Teufel, verrückten Gestalten, die sich gen Osten bewegen, über die Zeithorizonte hinweg. Hier liegt sie, die verrückteste geistige Un-Art, über Gott und verschiedene Welten zu plaudern. Wojciech, rufe ich meinen Gefährten, halt mit das Sprungtuch auf! Ich komme gesegelt.” (Brief Nur. 18)

Besagter Wojciech erinnert ihn wohl nicht ohne Grund an einen Dramenhelden von Büchner, jenen phantasierenden Woyzeck, der das Wissen um sein Verhängnis genauso blumig in Worte zu fassen weiß.

Was Dorothea möglicherweise zu all diesen wilden Phantasiereisen gesagt oder geschrieben haben könnte, steht natürlich nicht im Buch. Aber sie scheint eine treue Seele zu sein, der ein vom Fieber überkochender Aichlein auch verraten kann, wie er sich selbst schon beim bloßen Anblick in die bezaubernde polnische Kellnerin verliebt und flüchten muss – wie eine Gestalt bei E. T. A. Hoffmann, völlig überfordert von seinen Gefühlen und Phantasien.

Ein wenig erinnern die sprudelnden Bilder an das, was Umberto Eco seinen Giambattista Bodoni in “Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana” erleben lässt. Bodoni versucht die Wurzeln seiner Erinnerung und seine Wissens wiederzufinden, indem er in den gesammelten Dingen seines Lebens auf Forschungsexkursion geht. Der Unterschied: Bodonis Geisteswelt wird vor allem aus südeuropäischen und us-amerikanischen Quellen gespeist. Während Aichlein/Gehrisch unübersehbar mit einer viel weiter nördlich und östlich verorteten Kultur aufgewachsen ist. Zu der natürlich Bobrowskis Sarmatien genauso gehört wie Rembrandts “Die Anatomie des Dr. Tulp”, Heines “Deutschland. Ein Wintermärchen” genauso wie der gespenstische Mummenschanz der einstigen Funktionärspolitik.

Es ist eine Weltbeschreibung. Nicht ganz so tragisch wie bei Eco. Denn Aichlein kann ja geholfen werden am Ende. Der Saft der Engelstrompete haut ihn nicht um, hat ihm nur einige traumatische Reisen in seine eigene Phantasie beschert, wo all das lebendig ist, was ihn auf Erden als Dichter, Leser, Übersetzer auch beschäftigt hat. Nur dass er ungefähr 30 Briefe lang nicht so recht weiß, welches die reale Welt ist und wo er sich nun gerade aufhält.

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Die Bilder, die Wörter, das Schiff

Peter Gehrisch, Leipziger Literaturverlag 2012, 24,95 Euro

Was nicht bedeutet, dass er am Ende zu mehr Gewissheit findet. “Wo ist das Land, das ich suche? – Aber ich höre nur Wellenrauschen, Gellen und – Schumm.” Immerhin der letzte Satz im Postscriptum zum letzten Brief, in dem er noch einmal mit dem Motiv des Schiffsuntergangs spielt, das unvermittelt verschwimmt mit einem wohl eher befremdenden Besuch auf einem noblen Empfang. Eins so befremdlich wie das andere.

Manchmal wissen die Veranstalter solcher Empfänge gar nicht, welche seltsamen Empfindungen sie damit auslösen, wie unwirklich sich da selbst einer fühlt, der nicht zu viel vom Saft der Engelstrompete genippt hat.

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