Manchen Büchern sieht man wirklich nicht an, was drin steckt. Mal ist es der Titel, der nicht knackig genug ist, mal das Cover, das zu brav ist. Und so versteckt sich auch in diesem Buch eine Geschichte, die zur braven Schulbuch-Optik nicht passt. Aus vielerlei Gründen. Der eine Grund ist natürlich die Phantasie, der Tino Hemmann wieder die Zügel schießen lässt.
Er gehört zu den Autoren, die unbedingt einen eigenen Verlag brauchen, damit auch alles, was ihnen an phantasievollen Geschichten einfällt, gedruckt wird. Den Verlag hat er. Und er kennt sich in den meisten Genres der Jugendliteratur aus – vom Fantasy-Stoff bis zur Kriminalerzählung. Seine Helden sind jung, Jungen zumeist, die mal rasante Weltraumabenteuer erleben oder selbst zum Opfer werden. Mit seinem Buch über Hugo, den “Unwerten Schatz”, hat er die finstere Geschichte der Leipziger Kinder-Euthanasie zum Thema gemacht. Aber nicht nur kriminelle Staatsapparate und Mediziner vergreifen sich an Kindern, missbrauchen sie für ihre Zwecke.
Oft sind es auch ihre nächsten Anverwandten, die ihnen das Leben zur Hölle machen. Ein nach wie vor junges Themenfeld in der Jugendliteratur. Denn bislang haben sich nur wenige Autorinnen und Autoren wirklich dem Leben und Erleben von Jungen gewidmet. Pubertät ist immer noch ein bunt gemaltes Abenteuer, bei dem es scheinbar nur um Adrenalin geht – und um das Überwinden der so sehr verleumdeten Tugend Angst. Jungen dürfen sich nicht fürchten. Nicht wahr?
Die Jungen, die früh lernten, dass man keine Angst haben darf, sitzen regelmäßig auf den Angeklagtenbänken unserer Gerichte. Manchmal werden sie jene dubiosen Politiker, die keine moralischen Grenzen mehr kennen, Unternehmer ohne Skrupel, Prominente, deren Absturz in Drogen, Alkohol, Kriminalität von den Boulevard-Medien so lüstern begleitet wird.Das kommt alles irgendwoher. Und mit David Knackmann hat Tino Hemmann sich ein alter ego erschaffen, das diese Krisen erlebt – meist mit allerlei Fantasy-Abenteuern. Doch da ging es nicht primär um das Überwinden des Bösen, das Heranreifen zu irgendeiner Art Held. Wenn David seine Abenteuer heil überstanden hat, dann deshalb, weil er seine Angst nicht verdrängte, weil er manchmal mutlos wurde und das auch zugab (wenn auch manchmal erst spät), weil er Freunde fand und auch nicht zu stolz war, Hilfe von scheinbar Schwächeren anzunehmen. All das, was Jungen in den schwierigen Jahren ja tatsächlich alle erleben. Die meisten – das ist die Tragik – wählen den leichteren Weg. Und verdrängen die Angst.
In diesem Buch begegnet man dem 14jährigen David, der zwar einer der besten Schüler der Schule ist, aber trotzdem noch dieselbe animalische Angst vor jeder Kurzkontrolle empfindet. Er fühlt sich nicht auf der sicheren Seite des Lebens. Und auch von der gestrengen Biologielehrerin erwartet er nicht unbedingt Rücksicht. Als er dann gar zur strengen Direktorin, Frau Napollon, gerufen wird, ahnt er nichts Gutes. Und sieht sich unverhofft beauftragt, das alljährliche Vorlesen für die Viertklässler im finsteren Schulkeller zu betreuen.
Die meisten Kinder freuen sich natürlich auf solche Vorlesenächte. Und die meisten Leute, die heute erwachsen sind, wissen gar nicht mal, was das ist. Wobei man beim Titel wäre. Der durchaus drei Nasen heftiger und prägnanter hätte sein dürfen.
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Denn im Keller erfahren dann David und die zehn ihm anvertrauten Viertklässler, dass es dabei nicht nur um eine hübsch gruselige Nacht geht, sondern einen echten Test, bei dem das uralte Schulhaus selbst die Regeln und Aufgaben vorgibt. Und versagen darf keiner, sonst bleiben die Kinder bis auf alle Ewigkeit im Schulhaus gefangen. So wie die Schüler der ersten Vorlesenacht, die schon 100 Jahre zuvor stattfand.
Das Ganze funktioniert wie ein komplexes Computerspiel – nur ohne Computer. Leseratten wissen, dass man für die eigentlichen Kopfabenteuer gar keinen Computer braucht. Nur gute Bücher und Autoren, die ihren jungen Lesern was zutrauen. Knifflige Aufgaben zum Beispiel, Rätsel, Scharaden, aber auch echte kleine Happen aus dem Schulunterricht. Alles verpackt in zehn verschiedene Abenteuer, die die jungen Lesenachtteilnehmer mal allein, mal zu zweit oder dritt in verschiedenen simulierten Welten erleben, die das Schulhaus für sie bereit hält. Richtige Abenteuer, bei denen es auch um Mut, Überwindung, Ausdauer und den Willen geht, die Aufgaben zu lösen.
Und da ist der zweite Stoff, aus dem Hemmann seine Jugendgeschichten webt: Seine kleinen Helden begegnen sich selbst, ihren eigenen Problemen, Ängsten, Fehlern. Der große Rabauke, der seine Freizeit immer nur mit Ballerspielen verbracht hat, steckt auf einmal selbst in so einem Ballerspiel – doch diesmal auf der Seite der Truppen, die er bisher immer so leicht zu Klump geschossen hat. Wie benimmt sich da einer, wenn die Soldaten um ihn herum tatsächlich fallen?
Und wie reagiert ein aufgeweckter Junge, wenn er in seiner Aufgabe zurückversetzt wird in die Nacht, als sein Vater Abschied nahm, um dann mit dem Auto tödlich zu verunglücken? Schafft er es, Abschied zu nehmen und loszulassen?Und wie geht die Tochter aus gutem Hause damit um, dass ihr gleich ein ganzes Labyrinth von Fragen vorgesetzt wird, das zwar ihre Klugheit und Ausdauer fordert – aber am Ende die Frage aufwirft: Und warum lässt du dich von deiner Mutter immer noch klein machen?
Die zusammengewürfelte Gruppe entpuppt sich als ein Knäuel solcher gar nicht einmal ungewöhnlicher Schicksale. Wahrscheinlich ist heutzutage jede Schulklasse derart bunt zusammengewürfelt – nur redet meist niemand darüber. Konflikte bleiben unausgesprochen, simple Muster von Anpassung, Dominanz und Gruppenbildung dominieren. Wäre es anders, wäre auch unsere Gesellschaft anders. Und unsere Schule mit ihrem Ballast eingetrichterten Lehrstoffes ebenfalls. Mal von den Bildungschancen ganz zu schweigen, die jenen Kindern bleiben, die aus komplizierten Elternhäusern kommen.
Dabei schlägt Hemmann auch noch die Brücke zu jener vor 100 Jahren verschwundenen Gruppe von Jungen, die im Schulhaus gefangen ist. Auch damals waren Kinder ja nicht dumm. Und so hilft man sich gegenseitig, trickst das zutiefst verstimmte Schulhaus aus, das nicht mehr so recht glauben will, das niemand die Schule hasst.
Und Hemmann lässt es auch nicht bei einem glücklichen Ende. Er hat auch noch einen Nachspann drangehängt, in dem David auf die Suche nach den Jungen geht, die ihm in der Vorlesenacht begegneten. Natürlich findet er sie auf dem Friedhof (aber nicht nur dort). Die meisten freilich wurden keine alten Männer, sondern starben im Krieg. Was dann schon fast den Kreis schließt zu Davids immer neuen Begegnungen mit der Angst. Denn Kriege werden von Männern gemacht, die längst zu gefühllos geworden sind, noch Angst zu empfinden oder Mitleid.
David Knackmanns unglaubliche
Vorlesenacht der vierten Klassen
Tino Hemmann, Engelsdorfer Verlag 2012, 15,00 Euro
Aber Hemmann gelingt es recht eindrucksvoll auch zu zeigen, wie schwer es Jugendlichen fällt, sich den eigenen Gefühlen zu stellen. Jungen erst recht. Aber der Grund für viele Verwerfungen in unserer ach so modernen Welt liegt in diesen Jahren, in denen Menschlein für Menschlein für sich die Entscheidung fällt: Stelle ich mich meinen Gefühlen? Oder passe ich mich an? Werde ich ein ganzer Mensch oder nur ein halber? – Es sind die Fragen, mit denen sich junge Menschen in dem Alter herumschlagen. Und in der Regel hat man vor diesen Fragen noch viel mehr Angst als vor der nächsten Bio-Kurzkontrolle.
Deswegen beantwortet sich so mancher diese Fragen nie im Leben.
Grund genug eigentlich für eine Menge Lesenächte. Auch mit diesem Buch.
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