Ein "Referenzwerk zur historischen Jugendforschung in Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert" nennen Leonard Schmieding und Alfons Kenkmann diese Sammlung von Aufsätzen zu unterschiedlichen jugendlichen Lebens- und Protestwelten von verschiedenen Autorinnen und Autoren. Das Forschungsfeld Jugendkultur ist jung. In Mitteldeutschland erst recht. Im Grunde zeigt auch dieser Band, wie jung dieses Forschungsgebiet tatsächlich ist.
Mit Mark Fenemore ist ein Autor darin vertreten, der sich aus kühler englischer Distanz mit den jugendlichen Subkulturen in der DDR beschäftigt hat. 2007 veröffentlichte der Senior Lecturer an der Manchester Metropolitan University sein Buch “Sex, Thugs and Rock’n’Roll. Teenage Rebels in Cold War East Germany”. Thugs sind übrigens jene berühmten Rowdys, die ab den 1950er Jahren im Sprachgebrauch der DDR-Obrigkeit auftauchten. Im Buch beschäftigt er sich mit den Nachfolgern jener Meuten aus dem Nazi-Reich, über die Sascha Lange mittlerweile ausgiebig veröffentlicht hat. Und es waren auch nach 1950 wieder staatliche “Organe”, die für die zahlreichen unangepassten Jugendgruppen auf Leipzigs Straßen und Plätzen den Begriff “Meuten” verwendeten.
Fenemore zeichnet übrigens mit seiner angelsächsischen Nicht-Betroffenheit ein sehr buntes Bild jener jugendlichen Subkulturen, die in Leipzig immer lebendig waren und auf ihre Weise immer bestrebt waren, ihren Lebensstil zu finden, gegen Uniformierung zu protestieren und die internationalen Musik- und Modetrends zu rezipieren.
Im Vorwort merken Schmieding und Kenkmann einige Parallelen an, die alle hier beschriebenen Jugend-Bewegungen von den Pfadfindern bis hin zu den Rockern und Breakdancern eint – sie zählen die wachsende Mobilität der Jugendlichen dazu, die starke Rolle des Kinos und die unübersehbare Präsenz der modernen Musikströmungen. Selbst die von Lange beschriebenen Meuten schleppten ja Grammophone mit, um ihre Platten mit Jazz-Musik zu hören. Die Broadway-Cliquen lebten im von den Nazis usurpierten Leipzig die Sehnsucht nach den großen Metropolen der westlichen Welt aus.Und ab den 1950er Jahren wurden Leipzigs Jugendliche im Grunde von jeder neuen Musikrichtung aus Übersee gepackt – angefangen beim Bebop über den Rock’n’Roll bis hin zum Sound der Beatles, der 1964 / 1965 in Leipzig geradezu eine Revolution der Garagen-Bands auslöste. Und 1965 in der legendären Beat-Demo auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz gipfelte.
Was einen natürlich an die hier schon einmal formulierte Idee erinnert, dass man sehr wohl diese Beat-Demo als Motiv für ein echtes Leipziger Freiheitsdenkmal hätte wählen können. Auch dieses Buch ist Beleg dafür. Denn die Beat-Demo war ja nur die berühmteste Protestaktion junger Leipziger gegen die vormundschaftliche Jugend- und Kulturpolitik der DDR. Wobei Wiebke Janssen in ihrem Beitrag zur Hallenser “Freundschaftskanne” sehr genau herausarbeitet, welche Rolle der damalige FDJ-Chef Erich Honecker bei der Zuspitzung der staatlichen Zugriffe spielte – bis hin zu jenem berühmt-berüchtigten 11. Plenum, bei dem mit der rebellischen Jugend auch gleich noch die gerade aufkeimende kritische Literatur- und Filmlandschaft zum Fall einer regelrechten Verteufelung wurde.
Die Leipziger Meuten: Wie junge Leipziger gegen die Gleichschaltung opponierten – und in die Mühlen der Justiz gerieten
Manchmal braucht man Geduld …
Broadway-Gangster und Reichsmeckerstadt: Historiker Alexander Lange erzählt über die “Leipziger Meuten”
Opposition im Dritten Reich? …
Der rockigste Gedichtband der DDR, neu aufgelegt: Mit der Sanduhr am Gürtel
Anfang der 1980er Jahre …
Born to be wild: Die Begleitmusik zu einem Jahrzehnt, über das fast niemand nichts weiß
40 Jahre sind natürlich nicht viel …
Sascha Lange erinnert sich: Eine glückliche DDR-Kindheit mit Intershop und Depeche Mode
Meine glückliche DDR-Jugend …
Das Buch zu einer legendären Demo: All you need is beat
Leipzig hat viele Daten in seiner Geschichte …
Dass Werner Bräunigs Buch “Rummelplatz” hier dezidiert erwähnt wird hat natürlich seinen Grund. Denn die Leipziger Kleinmesse wird hier nicht nur akribisch als Kulisse beschrieben – sie war auch einer jener Freiräume, den Leipziger Jugendliche nutzten, um ihren Lebensstil zu leben und auch mal gegen die “Staatsorgane” zu protestieren. Was man so beim Lesen merkt, ist natürlich: Dieser jugendliche Protest in seinen vielen Spielarten riss in Leipzig nie ab. Mancher, der früh mit Musik und westlichem Kleidungsstil seinen Protest auslebte, landete dann – gar nicht so zufällig – Anfang der 1980er Jahre im Umfeld der Friedensbewegung.
Zwar schildert Peter Wurschi die “bleierne Zeit” der 1980er Jahre aus Suhler Perspektive – aber dieselben Jugendströmungen gab es auch in Leipzig – mitsamt den Verhinderungsaktionen der Partei- und Staatsinstanzen.
Was noch auffällt – gerade weil die ersten Beiträge im Buch sich mit der (verordneten) Schiller-Rezeption von 1905 / 1909 und dann der Zensur in Leipziger Kinos im Weltkrieg und in den frühen 1920er Jahren beschäftigen – ist die Tatsache, dass in den Texten tatsächlich die jugendlichen Subkulturen dominieren. Sie sind leichter zu fassen, weil sie auch immer wieder zum Thema staatlicher Beobachtung und Verfolgung wurden und deshalb auch in den Archiven der Gerichte, der Polizei oder des MfS ausführlich dokumentiert sind.
Aber es sind trotzdem nur Teilbereiche der jeweiligen Jugendkultur. Unübersehbar ist, dass es vom Kaiserreich bis zur späten DDR immer starke staatliche Bestrebungen gab, Jugendliche zu normieren. Es ist der Grundwiderspruch, der das Lebensfeld Jugend im ganzen 20. Jahrhundert durchzieht. Ein Grundwiderspruch, in dem junge Menschen lernen, sich zu behaupten – oder anzupassen. Denn “die Jugend” gibt es ja nicht. Und zu vielen der hier geschilderten Protestformen brauchte es auch Mut, manchmal auch das richtige Umfeld, die richtige Clique.
Kohte, Kanu, Kino und Kassette
Leonard Schmieding, Alfons Kenkmann, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2012, 24,00 Euro
Und für die Forscher wird es natürlich jetzt erst spannend. Denn wenn man nicht nur den Fokus auf die Subkulturen legt (von denen es auch in der Regel mehrere gleichzeitig gab und gibt), dann erscheint Jugend als ein breites Spannungsfeld zwischen angepasst und aufmüpfig, staatstragend (diese Jugendlichen gibt es auch), angepasst und rebellierend. Selbst die Studien des Zentralinstituts für Jugendfragen, die Wurschi in seinem Beitrag zitiert, belegen, dass noch 1985 rund 90 Prozent der Jugendlichen sich mit der DDR identifizierten – also staatstragend waren. Das konnte durchaus die Rezeption westlicher Musik und Lebensstile einschließen – wie Schmieding am Beispiel von Breakdance und Hiphop zeigt.
Erst gegen 1988 kippten die Zustimmungsraten unter den Jugendlichen rapide. Diese Textsammlung zeigt also auch, wieviel die Forscher über das komplexe Thema Jugend noch gar nicht wissen.
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