Die Petersburgerin Edith Müthel ist über 90 Jahre alt. In ihrem Buch "An Gottes Hand. Eine deutsch-russische Lebensgeschichte" zeichnet sie ihr Leben nach. Als Heranwachsende in Stalins Sowjetunion trägt sie aus Sicht der Herrschenden zwei Makel: Sie ist die Tochter eines evangelischen Pfarrers, und sie ist deutscher Nationalität. Weihnachtskakteen sind in diesen Wochen in unseren Breiten wieder Massenware. Nahezu jeder Discounter und Gartenmarkt bringt sie als saisonales Angebot uns Kunden nahe.
Edith Müthel hat eine besondere Beziehung zu diesen Pflanzen. “Der Weihnachtskaktus ist für mich bis heute wie ein Funken Hoffnung, wie ein Strahl Liebe, wie Licht des Glaubens an Jesus Christus fürs Leben”, schreibt die Petersburgerin in ihren Lebenserinnerungen, “wann immer möglich steht ein Weihnachtskaktus auf meinem Fensterbrett.”
Ein solcher Weihnachtskaktus bildete auch am Heiligen Abend 1931 den Mittelpunkt des Wohnzimmers der Familie Müthel. “Um den mit Blüten übersäten Kaktus standen Weihnachtskerzen”, erzählt die heute über 90-Jährige aus ihrer frühen Jugend.
Ihre Kindheits- und Jugendjahre verbrachte Edith Müthel in Norka, einer Gemeinde nahe der Wolga bei Saratow. Norka war einstmals von Siedlern aus dem Gebiet des heutigen Hessen gegründet worden. Die Gemeinde lag mitten im Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen. Von 1924 bis 1941 bestand dort im Staatsverband der damaligen Sowjetunion eine eigene autonome Republik der Wolgadeutschen.
Deren Geschichte beginnt mit dem Einladungsedikt von Zarin Katharina. Sie ist die einzige Frau der Weltgeschichte, die den Beinamen die Große trägt. In diesem Jahr feierte Russland die Thronbesteigung der Fürstentochter aus dem anhaltinischen Zerbst vor 250 Jahren.
Doch die Zarenzeit endete 1917. In Edith Müthels Kindheitsjahren herrschten die Bolschewiki in dem Riesenreich, das sie nach ihrem Bilde formen wollten.
Folglich gab es keinen öffentlichen Gottesdienst mehr in Norka an diesem Heiligen Abend 1931. Die Familien feierten die Geburt Jesu Christi “geheim, im engen Familienkreis hinter verschlossenen Türen”, wie Edith Müthel schreibt.
“Nicht alle Familien waren in dieser Nacht vollzählig”, lesen wir weiter über die Zeit des stalinschen Terrors, “manchmal fehlte der Vater, Sohn oder der Bruder. Wo waren sie in dieser Heiligen Nacht? Im hohen Norden oder in Sibirien. Lebten sie überhaupt noch? Oder hatten sie in der Verbannung den Tod gefunden? Niemand wusste es.”
Familie Müthel feierte den Heilgien Abend 1931 zum ersten Male ohne den Vater. Als evangelischer Pfarrer hatte er “eine Amtsreise nach Saratow angetreten, wo in der St. Marienkirche noch der Heilige Abend gefeiert wurde und die Glocken noch zu Weihnachten läuteten”.
Der revolutionäre Wandel, wie ihn die Bolschewiki verstanden, hatte auch Norka erfasst. “Das Vieh war mit dem Bauer in die Kollektivwirtschaft eingetreten – man hatte es abliefern müssen. Auch das Ackerfeld gehörte jetzt dem Kolchos. Die Bauernschaft war eingegangen.” Spärlich fielen die Mahlzeiten aus zu Weihnachten 1931 in Norka.
Es war “Das letzte Weihnachtsfest in Norka”, wie Edith Müthel schreibt. Zeiten der Leiden und Prüfungen werden folgen.
Leben als Tochter eines Volksfeindes
In dem Buch “An Gottes Hand. Eine deutsch-russische Lebensgeschichte” hat Edith Müthel ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben. Sie tat es auf Bitten von Vera Gast-Kellert, Leiterin der Frauenarbeit des Gustav-Adolf-Werks. Im Verlag dieser evangelischen Einrichtung mit Sitz in Leipzig ist das Buch nun erschienen. Das Gustav-Adolf-Werk unterstützt seit 1832 evangelische Christen in der Diaspora.
“Edith Müthel erlebt früh, was es bedeutet, Tochter eines Volksfeindes zu sein”, heißt es in der Verlagsmitteilung, “für die Pfarrerstochter beginnen mit der Verhaftung des Vaters Jahre der Angst und Verzweiflung.” Gemeinsam mit Mutter und Geschwistern wird sie aus Norka nach Sibirien deportiert. “Kälte und Hunger, schwerste Arbeit, Willkür und Diskriminierung prägen seither ihr Leben”, teilt der Verlag weiter mit, “doch die Sorge um ihre Familie und der tiefe Glaube an Gott lassen sie alle Widrigkeiten aushalten.”
Sibirien bedeutet Zwangsarbeit in der “Arbeitsarmee”. Mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion gelten alle Deutschstämmigen als Kollaborateure. An deren Entrechtung in Folge des “Erlasses des Obersten Sowjets “Über die Umsiedlung der in den Rajons der Powolsche lebenden Deutschen vom 28. August 1941” erinnern alljährlich zum Sommerende verschiedene Leipziger Kirchgemeinden.
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Das innersowjetische Tauwetter nach Stalins Tod nimmt diesen Bann von den Russlanddeutschen. Die “Deutschen” bekommen wieder Papiere, werden wieder Bürger. Edith Müthel beginnt im damaligen Leningrad, das heute wieder St. Petersburg heißt, ein neues Leben.
Die Petrigemeinde am Nevski Prospekt bildet bis heute den Mittelpunkt ihres Lebens. In der wunderschönen und mehrfach leidgeprüften Stadt an der Newamündung war ihr Vater als einer der letzten lutherischen Pfarrer in der St. Annenkirche ordiniert worden.
Russlanddeutsches Leben gibt es in Russland immer weniger. Nach dem Zweiten Weltkrieg, verstärkt mit Beginn der Perestroika kamen viele als Spätaussiedler in die Bundesrepublik. Von denen, die in den Jahren rund um die Epochenwende 1989 geboten wurde, machen manche Karriere. Die Unterhaltungskünstlerin Helene Fischer beispielsweise oder der Fußballspieler Konstantin Rausch, der bei Hannover 96 spielt und in verschiedene Nachwuchsmannschaften des DFB berufen wurde.
Andere junge Männer aus Spätaussiedlerfamilien dienen heute bei der Bundeswehr. Der Einsatz in Afghanistan gehört dazu, und auch der Tod in dem fernen Land. In einem Land, in dem vielleicht schon ihre Väter als Soldaten eingesetzt waren – auf Seiten der Sowjetarmee.
Edith Müthel hat fast das ganze, kurze und schreckliche 20. Jahrhundert erlebt. Es war ein Jahrhundert der Kriege und Ideologien in Europa, das viele Leben früh beendete und viele Leben biografisch verbog. Zu all den für heutige Europäer – und das schließt die Russen ausdrücklich ein – in der Rückschau offen liegenden Fragen stellen sich zwei weitere: Inwieweit können die europäischen Staaten, die sich nach ihrer Staatsidee als Nationalstaaten begreifen, mit ethnischer Diversität umgehen lernen? Und welche Rolle dürfen die Religionen in ihnen spielen?
Edith Müthel An Gottes Hand. Eine deutsch-russische Lebensgeschichte”, Verlag des Gustav-Adolf-Werks, Leipzig 2012, Klappenbroschur mit z.T. farbigen Abbildungen, 184 Seiten, Preis 9,50 Euro, ISBN 978-3-87593-121-1
http://glauben-verbindet.blogspot.de/2012/05/besuch-bei-edith-muthel.html
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