Ein zweites "Tagebuch eines Depressiven" wollte Michael Oertel nicht schreiben. Aber loslassen wollte ihn das Thema auch nicht. Der Held auch nicht, der so manchem Leipziger ganz gewiss vertraut ist. Schüchtern, unsicher, leicht depressiv. Eben aus der Klinik entlassen, aufgeladen mit einer Menge eingeübtem Optimismus. Wie weit reicht das?

Natürlich schreibt der Held dieses neuen Oertel-Romans wieder Tagebuch. Optimismus ist zwar was Feines, und es gibt mittlerweile allerlei Hilfsmittelchen, ihn zumindest künstlich wieder zu reaktivieren, wenn man mal wieder im tiefen Loch versinkt. Aber man versinkt ja nicht nur, weil man dazu vielleicht veranlagt ist. Und ob es eine klinische Depression ist oder etwas ganz anderes, darf auch offen bleiben. Andere Autoren – und ein paar mutige Leipziger gehören dazu – schreiben dann über ihre bedrückenden Nächte, die Abstürze und den Teufel Alkohol, der eben nicht nur Retter in der Not ist, sondern auch trugreicher Ausweg.

Das Beste ist: Man schnappt sich die ganzen edlen Alkohol-Vorräte in der Wohnung und verschafft der müden Truppe an der Kaufhalle mal ein kleines Freudenerlebnis, freut sich mit, belässt es aber künftig bei roter Fassbrause. Und dem Computer-Tagebuch. Das kann zwar auch die Nächte fressen, aber der Kopf brummt am nächsten Morgen nicht, weil er noch mit Sekundäralkohol zu kämpfen hat.

Dass auch dieser Roman-Held hier immer wieder seine trüben Stunden erlebt, hat eher damit zu tun, dass er die Welt, wie sie da ist, mit recht skeptischen Augen betrachtet. Geht ja nicht nur Leuten so, die in psychologische Betreuung gehen, dass sie das Gefühl haben, nicht sie seien verrückt, sondern die Leute, die in dieser Welt das Sagen haben. Typen, die beim Plagiieren ihrer Doktorarbeiten erwischt werden und dann immer noch als salonfähige Politiker gehandelt werden, Werbesprüche, die nicht nur auf die Nerven gehen, sondern sogar für ein wohlfeiles Discounter-Begräbnis taugen, Einkaufsmärkte mit Arbeitszeiten, die eine simple Verabredung zweier Liebender unmöglich machen, Kellner, die zufälligen Gästen deutlich klar machen, dass sie im falschen Restaurant sind, Astro-TV, überhaupt TV-Produzenten und ihre seltsame Sicht auf die Wirklichkeit.Tag für Tag schreibt der Held seine Erlebnisse nieder, manche davon skurril, manche lustig, andere nur verwirrend, etliches – insbesondere über die große Politik – reineweg wütend. Aber er erzählt oft und gern von sich und seinen Gedanken. Und die wirken erstaunlich vertraut. Es ist natürlich eine andere Welt, als sie über die Mattscheiben der Nation flimmert, eine, in der Verwirrung, Rat- und Mutlosigkeit zum Alltag gehören, in der gar nichts einfach und klar ist.

Was nicht heißt, dass die Dauersieger in einer klareren Welt leben. Nur denken sie augenscheinlich nicht so oft und gründlich darüber nach wie der Buchheld und seine bezaubernden Freundinnen Mone und Kimberley, die er auch erst kennen lernt, nachdem er sich ein Herz gefasst und all seinen Mut für eine Verrücktheit zusammen genommen hat.

Wer also schon immer schlechte Erfahrungen mit dem Anbahnen von Rendezvous gemacht hat, wird sich in diesen Tagebucheinträgen auf vertrautem Terrain wiederfinden. Und bekommt so beiläufig ein paar Beispiele, wie man es wohl nach sämtlichen Lehrbüchern der Flirtanbahnung niemals machen dürfte – aber wohl doch mal probieren sollte. Zumindest, wenn man mal mit jungen Frauen bekannt werden will, die nicht ins vorgegebene Prinzessinnen- und Blondinenraster passen. Welche auch sonst?

Klappt zwar trotzdem nicht immer. Aber selbst die verdatterte Verkäuferin in Halle/Saale (derzeit wahrscheinlich wieder: Halle/Sale) geht auf die verwirrenden Späße des Burschen ein, der so verzweifelt Kontakt sucht, aber genauso Angst davor hat, dass er nicht ernst genommen werden könnte. Aber manchmal sind es die ernst gemeinten Scherze, die Brücken bauen und zwei zueinander finden lassen, die durchaus auf gleicher Wellenlänge sind. In diesem Fall grimmige Scherze über die Englisch-Manie neuzeitlicher Ladenwerbung. Da kann nur einer wie dieser Oertel auf die Idee kommen, gründlicher über den Unterschied von “to go” und “and go” nachzudenken, über Coffee to go und Cut and go und das, was dabei herauskommt, wenn man Laden für Laden mit solchen Sprüchen durchdenkt. Bis hin zur Bundeswehr, wo es natürlich ganz blutig wird.

Natürlich neigen die Texte zum Abschweif und zur Satire. Was zwangsläufig ist, wenn einer sich so konsequent im Widerspruch fühlt zu dem, was einem tagtäglich als normal untergejubelt werden soll. Und sei es eine scheinbar energiesparende Espressomaschine im Technikmarkt, bei der sich der Anpreiser alle Mühe gibt, das gelernte Kauderwelsch immer wieder aufzunehmen. Aber da hat er nicht mit diesem Burschen gerechnet, der – er erwähnt es des Öfteren – in der hingeschiedenen DDR aufgewachsen ist und dabei gelernt hat, schönen Versprechungen und Tatsachenbehauptungen nicht mehr zu glauben. Anglizismen im Alltag sowieso nicht.Ob seine Eltern dran schuld sind? Insbesondere die Mutter, die den Vater piesackte beim Essen, so dass er gar nicht essen kam? – Wer weiß. Vielleicht war auch sie nur ein Opfer der ewig nagenden Schuldgefühle. Fast wartet man ja auf eine freche Fußnote zu Hans-Joachim Maaz und seinem Buch “Der Gefühlsstau”. Ist ja nicht so, dass das alles abgelassen wurde wie ein Wasserbassin, als die Ostdeutschen 1989 die Mauer wegpusteten (Ja, die waren es, auch wenn heute ein paar seltsame Leute behaupten, sie seien es gewesen.).

Mit der “Narzisstischen Gesellschaft” hat Maaz ja ein Buch nachgeschoben, das eher die westdeutsche Variante dieser Unfähigkeit betrachtet, mit Wünschen und Gefühlen offen erwachsen umzugehen. Was da 1989/1990 aufeinander prallte, waren zwei verschiedene Welten emotionaler Amputation. Unverständnis traf auf Unverständnis. Und gewonnen haben (zumindest vorläufig) die mit der größeren Klappe und den rücksichtsloseren Ellenbogen.

Die Welt, aus der Michael Oertel erzählt, ist ja trotzdem noch da. Und er teilt sie tatsächlich nicht nur mit Mone und Kim und noch einigen Millionen weiterer Deprimierter. Sie ist auch sehr real – wenn auch keineswegs so hübsch glänzend wie die übliche Werbe- und Marketingwelt. Es ist eine Welt voller Menschen, die noch an sich selbst zweifeln können, die immer auch das Wenn und Aber bedenken und auch oft an sich selbst scheitern, so sehr scheitern, dass ihre Psychologin durchaus ernsthaft fragen darf: Wer sind Sie eigentlich?

Mal ganz heimlich verraten: Auch die anderen wissen es meistens nicht. Die tun aber so, als sei das kein Problem.

Es ist also wieder so ein Oertelsches Tagebuch mit lauter menschlichen Abgründen geworden. Aber kein deprimierendes. Und der Edding, dieser Stift mit der dicken Tinte, mit der man richtig fette Wörter schreiben kann, spielt zwar nicht von Anfang an mit, taucht aber rechtzeitig auf, um den Helden zu seinen aufregendsten Abenteuern zu begleiten. Die eigentlich gleich nebenan lauern. Man muss sich nur drauf einlassen wollen. Aber wer kann das schon, wenn er keinen Edding dabei hat?

“Ich mach’ mir Angst”, Lychatz Verlag 2012, 19,95 Euro

www.lychatz.com

www.michaeloertel.com

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