Das Gebäude Wilhelm-Leuschner-Platz 10/11 gehört zu jenen Leipziger Häusern, für die es ein Buch braucht, um ihre Geschichte ganz zu erzählen. Tatsächlich sind es ja mindestens drei Geschichten: die des 1893 bis 1896 nach Plänen von Hugo Licht errichteten Gebäudes, die seiner ersten Mieter - und die seines heutigen Bewohners, der Stadtbibliothek.
Der vom Lehmstedt Verlag vorgelegte Bildband erzählt zwei der drei Geschichten. Die der beiden Museen, für die das Haus 1896 eröffnet wurde – Völkerkundemuseum und Museum für Kunstgewerbe – wird nur angerissen. Diese Geschichte wird im neuen Grassi-Museumskomplex am Johannisplatz seit 1928 fortgeschrieben. Vom ursprünglichen Museumsbau, den Hugo Licht entworfen hatte und der aus dem Vermächtnis des Kaufmanns Franz Dominic Grassi finanziert wurde, ist nur noch wenig zu sehen. Das einst pracht- und eindrucksvolle Innenleben ging 1943 im Bombenhagel verloren. Überdauert hat die Prachtfassade zum Wilhelm-Leuschner-Platz, an der man auch noch die von Seffner, Lehnert und Ungerer geschaffenen Figuren sehen kann, die an die frühere Nutzung des Gebäudes erinnern.
Ein paar eindrucksvolle Fotografien zeigen auch das Innere des damaligen Gebäudes, das freilich schon in den 1920er Jahren zu klein wurde für die wachsenden Sammlungen. Was dann den Neubau des Grassi-Museums notwendig machte. Aus dem Haus am damaligen Königsplatz wurde ein Textilmessehaus. Und nach dem Krieg wurde es notdürftig wieder hergerichtet und diente bis 1990 den Chemieanlagenbauern als Verwaltungssitz. Und da setzt natürlich die zweite Geschichte ein: die der Leipziger Stadtbibliothek.
Im Bildband ist es ein separater dritter Teil, der diese eindrucksvolle Geschichte beleuchtet. Von der segensreichen Zeit des Advokaten und Finanzbeamten Huldreich Groß, der 1677 der Stadt Leipzig seine Sammlung von 4.000 Büchern aus allen Wissensgebieten testamentarisch vermachte unter der Bedingung, sie zur Bildung der Jugend zugänglich zu machen. Diese 4.000 Bände findet man heute nicht mehr in der Ausleihe der Stadtbibliothek, sondern als Deposit in den temperierten Archiven der Universitätsbibliothek. Denn nach über 300 Jahren sind die von Groß gesammelten Bücher wahre Schätze geworden und mit 50 Millionen Euro in die Eröffnungsbilanz der Stadt Leipzig eingegangen.
1683 zog die Sammlung in das 1. Obergeschoss des Zeug- und Gewandhauses, 1711 wurde der Raum extra für die bibliothekarische Nutzung umgebaut – mit dem berühmten Kunstgitter im Raum, das die Ausleihe vom Bestand trennte. Bis 1943 befand sich die Stadtbibliothek an diesem Ort an der Ecke Universitätsstraße / Gewandgässchen. Dann kamen die Bombennächte. Glück im Unglück: Die wertvollsten Buchbestände waren ausgelagert.Was trotzdem nicht verhinderte, dass die Leipziger Stadtbibliothek bis 1991 heimatlos blieb. Provisorisch kam sie in Barthels Hof unter. Aber auch da hatten sich 1986 die baulichen Bedingungen so verschlechtert, dass die Ausleihe beendet werden musste.
Wer also die wichtigsten geschichtlichen Bezugspunkte der Leipziger Stadtbibliothek sucht, findet sie hier. Dominierend ist natürlich der Mittelteil mit Farbfotografien von Mahmoud Dabdoub. Er war einer der ersten Fotografen, die das Innere der jetzt für 14,9 Millionen Euro komplett umgebauten Bibliothek sehen und fotografieren durfte. Vom Keller über die vier hellen und farbig abgesetzten Nutzungsetagen bis zum Dach, wo es eben nicht nur die Lüftungsanlage zu sehen gibt, sondern auch einen Traum. Denn als Option hat man bei diesem Umbau die Möglichkeit offen gelassen, anstelle des ursprünglich hohen Daches samt Ziergiebel eine fünfte Etage aufzusetzen. Hier könnte eine eigene Gastronomie unterkommen, die natürlich eine brillante Sicht als Bonus hätte: Von hier schaut man über die Dächer der Innenstadt. Aber das ist noch Zukunftsmusik.
Die Leipziger Stadtbibliothek
Arne Ackermann; Heike Scholl, Lehmstedt Verlag 2012, 14,90 Euro
Mit den Fotos von Mahmoud Dabdoub kann man eindrucksvoll erleben, wie die neu gestalteten Räume der Bibliothek wirken, wenn mal kein Menschengetümmel drin ist. So wird man sie wohl künftig eher nicht zu sehen bekommen. Es ist also auch ein Buch für Leute, die sich für moderne und spannende Raumlösungen interessieren. Ein Erinnerungsbuch für die Freunde der Stadtbibliothek sowieso. Im vierten und letzten Teil des Buches kann man auch noch einen kleinen Blick in die Schatzkammer der Stadtbibliothek werfen, jene Buchschätze also, die entweder nun im Depot der Universitätsbibliothek sicher untergebracht sind oder die als Nachlass in der Stadtbibliothek aufbewahrt werden. Manches davon wird man künftig auch in Ausstellungen im Haus zu sehen bekommen.
Die aktuelle Ausstellung im Oberlichtsaal der Stadtbibliothek zeigt die Reise durch die Geschichte des Hauses.
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