Verdrängungsspiel. Das klingt nach Sigmund Freud. Und nach ein paar hübschen Therapierunden mit bunten Bällen und esoterischer Musik. Warum nicht "Mörderballaden"? Wenn schon, denn schon. Aber man merkt es bald: In der Seele des Dichters Matthias Seydewitz arbeitet weiter der unermüdliche Sozial- und Kulturarbeiter.

Beruflich ist er als Organisator im Kulturzentrum KuHstall in Großpösna tätig. Und der mitfühlende Blick auf die Aussortierten, Gestrauchelten und Überforderten in unserer Gesellschaft gehört zu ihm. Er kennt das. Hat sich damit immer wieder beschäftigt und redet nicht nur drüber, wie es die meisten Leute tun, sondern versucht sich einzufühlen, zu verstehen, was Menschen zum Straucheln und Abstürzen bringt. Denn das ist ein Teil unserer auf Leistung getrimmten Gesellschaft.

Wer nicht mehr mitkommt, wem die Puste, der Mut, die Motivation verloren gehen, der wird nicht mehr aufgefangen. Mancher will sich auch nicht mehr auffangen lassen, weil selbst das Auffangen nicht mehr selbstverständlich und selbstlos ist. Selbst für das kleinste Entgegenkommen verlangt eine vom Krämergeist besessene Gesellschaft ein Entgelt, eine Gegenleistung. Wer nicht ganz raus ist, leidet weiter.
Es steht zwar Lyrik drauf auf dem Buch, aber es ist mehr. Es ist eine Mischung aus Gedichten, Balladen, lyrischer Prosa und kleinen Krimis – zumeist mit letalem Ausgang. Auf den ersten Blick bunt gemixt. Auf den zweiten von einem Strom getrieben, der aus dem Spiel am Ende Ernst macht. Auch wenn es für einige Gestalten schon vorher ernst wird. Da findet man Gedichte, die durchaus den düsteren, fatalistischen Ton von Nick Caves Album “Murder Ballads” von 1996 aufnehmen. Für Matthias Seydewitz augenscheinlich die Initialzündung, nun mit dem Schreiben wirklich ernsthaft anzufangen. Begleitet habe es ihn schon sein Leben lang, gibt er Auskunft, benennt Gottfried Benn als Maßstab. Aber an Benn erinnert in dem kleinen Band nicht viel.

Hier leuchten ganz andere Geister durch – neben Cave eher irrlichternde Gestalten wie Charles Bukowski und Charles Baudelaire. Die “Fleurs du Mal” sind so gegenwärtig wie die “Murder Ballads”. Die Kulisse könnte Leipzig sein. Was nicht zwingend sein muss. Aber mit Seydewitz hat Leipzig wieder einen Dichter, der sich etwas ernsthafter mit den dunklen und nicht salonfähigen Seiten der Großstadt beschäftigt, mit den Menschen des Abgrunds, den Lieblosen, Ungeliebten, Verdammten, Verlassenen und Ratlosen. Säufern zumal, Schlaflosen und Süchtigen. Die kleinen, fast lyrischen Geschichten, die er einstreut, entpuppen sich am Ende alle eher als kleine Filmskripte für bitterböse Krimis. Kleine Eifersuchtsszenerien verwandeln sich in Totschlag, der Spaziergang mit einem braven Mädchen in Mord. Manchmal steckt Seydewitz als Autor in der Haut des Täters, mal in der eines verdutzten Zuschauers, der selbst Teil der Geschehnisse wird, ohne sie zu begreifen.

Einen Autor nennt er sogar des öfteren – stellvertretend durch zwei seiner bekanntesten Protagonisten: Jekyll und Hyde. Was natürlich aus dem Verdrängungsspiel ein Grenzspiel macht. Da Seydewitz sich mit den Gestrauchelten und Abgestürzten in seinem Leben auch öfter näher befasst hat, weiß er, wie dünn das Eis ist, wie schnell einer, der eh schon in Zwängen steckt, abstürzen und zum Täter werden kann. Die “Bestie Mensch” nannten das mal ein paar Generationen, als man es noch interessant fand, die wirklich finstere Seite der bürgerlichen Scheinwelt zu beleuchten. Aber in letzter Zeit hat man da lieber wieder den Deckel drauf getan, stellt sich dumm und tut einfach so, als seien immer nur die Anderen das Böse. Man ignoriert die Abgründe einfach – und lässt sich doch von ihnen antreiben im Hamsterrad. Denn mancher, der im schnieken Anzug herumläuft, ist von der Angst besessen, dass er selbst einmal dort landen könnte – als Penner auf der Parkbank, als einsamer Trinker zwischen Mülltonnen.

Da und dort stimmt Seydewitz sogar rebellische Tone an, besingt “Liberté, Egalité, Fraternité” in Goyas “Erschießung der Aufständischen” – wobei natürlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit von den Brüdern in Uniform ebenfalls über den Haufen geschossen werden. Und Brecht wird zitiert. Auch wenn der Spruch “Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt” wohl eher aus der Sponti-Szene stammt und heute als Slogan der Anti-Hartz-IV-Kampagne gern benutzt wird. Bei Brecht heißt es noch: “Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.”

Auch das könnte ein Motto sein für diese Sammlung von Gedichten und kurzen Texten, in denen man nicht immer weiß, ob es nun der Autor ist, der die Suche und die Sehnsucht nach Liebe und Nähe besingt oder eine seiner am Abgrund schleichenden Gestalten. Am Ende scheint Matthias S. tatsächlich selbst zum Sprecher zu werden, besingt das Unangepasstsein und die Freude, auch mit 50 immer noch nicht fertig zu sein mit sich. Was all den Texten natürlich eine neue Facette hinzufügt: Wer die Abgründe in den Leben der anderen wahrnimmt, der weiß auch um die eigenen Gefährdungen. Da muss man auch schon mal gegen den eigenen Blues ansingen und die Ärmel hochkrempeln. Alt werden und dummes Zeug reden kann ja jeder. Aber jung bleiben ist eben nicht der Weg zum Schönheitschirurgen, sondern das Nicht-Aufhören mit Fragen und Sich-Einmischen. Altwerden kann jeder. Das ist keine Kunst. Die Kunst ist, sich dabei nicht selbst zu verlieren.

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Verdrängungsspiel
Matthias Seydewitz, fhl Verlag 2012, 12,00 Euro

Hier sucht einer die Töne dazu. Wann auch erst einmal die ganz dunklen. So passt natürlich der Titel ein wenig. Seydewitz schreibt über die Spiele der Verdrängung, die Großstadtmenschen alleweil spielen. Für manche geht das tragisch aus. Andere merken es nicht einmal.

Buchpremiere für “Verdrängungsspiel” ist übrigens am Freitag, 2. November, um 20 Uhr im Kreuzgewölbe des Bürger- und Vereinshauses Großpösna (Im Rittergut 3 , Großpösna). Mit Autor Matthias Seydewitz. Aber leider ohne Nick Cave.

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