Man traue keinem Waschzettel. Was Verlage als Werbestimmen auf ihre Bücher drucken, hat gern auch mal ganz und gar nichts mit dem Buch zu tun. Oder ist einfach schräg. Jess Jochimsen ist Kabarettist aus Bayern und findet, Stauffers "Pilgerreise" sei eine glänzende Satire. Es ist ein verrücktes Buch, keine Frage. Und wer nun glaubt, eine Satire etwa auf Hape Kerkelings berühmtes "Ich bin dann mal weg" zu finden, liegt daneben und wird sich ärgern.
Denn Bela Schmitz ist kein Pilger aus freien Stücken. Bela Schmitz ist ein Gescheiterter. Soeben ging seine Partnerschaft in die Binsen. Und die Szenen, an die sich der Dichter und Literaturprofessor erinnert, zeigen durchaus einen Mann, der an der Tragödie schuld ist, der seine Frau zur Raserei treibt und sich am Ende wundert, dass sie dem verschlossenen Egomanen deutlich erklärt, was für ein rücksichtsloses Arschloch er ist.
Wonach sie ihm einen kurzen, saftigen Abschiedszettel schreibt und geht. Und dann verwüstet er erst einmal die Wohnung und bringt es fertig, seine Beziehungstragödie auch noch im Seminar vor den Studenten auszubreiten. Man sieht einen Mann Amok laufen mit seinen Gefühlen, die er weder in der Lage ist zu erklären noch zu zähmen. Wie ein Kind, dass aus seinem Frust nicht herausfindet und auf Big Mama hofft, die alles wieder gut macht.Big Mama steckt auch im Buch: ganz hinten als beigelegte CD, die das Stauffer-Hörspiel “Mein Motto: Mutter” enthält – den Versuch, der Rolle der Mutter im Leben von Bela Schmitz irgendwie auf die Spur zu kommen und der Frage, die viele Männer ihr Leben lang nicht zu lösen vermögen: Wessen Leben führen sie eigentlich? Ihr eigenes oder das eines anderen, das ihnen die gutgemeinten Ratschläge der Mutter vorgegeben haben? Eine herrliche Frage. Die zumindest diesen Bela Schmitz in Abgründe der Ratlosigkeit stürzt. Denn daran hängen so ungemütliche Fragen wie: Warum fallen ihm Frauen, die seiner Mutter ähneln, geradezu in den Schoß – und an den anderen beißt er sich die Zähne aus?
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Es könnte der selbe Bela Schmitz sein, der in der “Pilgerreise” völlig austickt, am Ende von seinem Cousin unter die Fittiche genommen wird und sich eines Tages auf den Weg macht. Er spricht nirgends davon, dass er gewillt ist, irgendetwas zu finden, irgendeine Erleuchtung oder Erkenntnis, wie sie andere auf ihren Pilgerwegen gesucht und gefunden haben. Eigentlich will er nur bis zum nächsten großen Fluss und dann wandern. Irgendwohin. Und da er außer seinem Cousin keine Freunde hat, weil er mit Menschen, die seinem hohen geistigen Niveau nicht genügten, nie auch nur ein Wort zu wechseln geruhte, hat er auch niemanden, dem er von seiner Reise erzählen kann. Also lässt er sich von Wildfremden, die er trifft, die Adresse geben und schickt ihnen von unterwegs Postkarten mit zumindest recht seltsamen Nachrichten.
An den Fluss gelangt er auch nicht, stattdessen führt ihn sein Weg ins Gebirge. Und da ist man dann eigentlich bei einem Urtypus des deutschen Narrenromans – bei “Wilhelm Meisters Wanderjahren” von Goethe. Klingt jetzt ganz gewaltig. Hat natürlich auch keiner gelesen. Woher soll man auch die Zeit nehmen? – Aber wenn es ein Buch gibt, in dem die Begegnungen mit Menschen und Natur ähnlich skurril angelegt sind, dann ist es dies. Und wer etwas Vergleichbares zu den seltsamen Gedanken und Sprüchen des wandernden Bela Schmitz sucht, findet es in Wilhelm Meisters hochklugen Sentenzen, in denen Goethe sich selbst – auf ganz weimarische Art – selbst persifliert.”Um zu begreifen, dass der Himmel überall blau ist, braucht man nicht um die Welt zu reisen”, heißt es etwa bei Wilhelm Meister.
“Selbstständig und aufrichtig sein und wissen, was man macht”, heißt es zur Einleitung von Kapitel XVII bei Stauffer. “Ich erkenne am Ende meiner Reise eine Person. Auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ich glaube, ich bin es.”
Was auch eine Enttäuschung sein kann. Denn ein kleines Problem, das Bela sein Leben lang begleitet und das auch sein Verhältnis zu den Eltern geprägt hat, benennt in der letzten entscheidenden Szene, bevor Bela auf Wanderschaft geht, sein Cousin: “Und wenn du was verändern willst, dann hör auf, dich wie ein behinderter Fischer zu verhalten, der immer an der Rute zieht, bevor der Fisch überhaupt angebissen hat, aus lauter Angst, den gefangenen Fisch sonst fressen zu müssen.”
Der gefangene Fisch, den der Leser erst im Lauf der Wanderschaft und etlicher eingeblendeter Träume und Rückblenden kennen lernt, ist – man glaubt es kaum – eine junge Frau, die diesen Bela Schmitz in all seiner Verschlossenheit sogar begehrenswert findet. Was man dann nach all den vorhergehenden Szenen einer gescheiterten Nicht-Ehe nicht wirklich begreift. Aber vielleicht gibt es da auch nichts zu begreifen und all das Hadern und Wüten des stets in sich rumorenden Bela sind für die Katz. Er kann über die Berge laufen, Gämsen und Schafen begegnen, wildfremden Menschen in Almhütten, Zügen und fremden Ländern begegnen: Er ist noch immer derselbe. Auch wenn er irgendwie das Gefühl hat, dass er wohl die Schuld an allem keinem anderen mehr geben kann, auch nicht seinen Eltern. “Nie mehr schneckenhaft sein”, heißt der letzte Abschnitt.
Pilgerreise
Michael Stauffer, Verlag Voland & Quist, 19,90 Euro
So gesehen: Ein echter Männerroman, der durch das beigelegte Hörspiel noch ein bisschen mehr Tiefe bekommt. Und wenn es eine Satire ist, dann eine auf all die Mädchenromane über kitschige Märchenprinzphantasien, über alle diese ZDF-Heimat-Filmchen, in denen die Männer immerzu gut betuchte Idealgestalten sind.
Und die Moral von der Geschicht? – Es gibt keine. Außer vielleicht die: Wer was verändern will, sollte wandern gehen. Irgendwas wird er schon finden.
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