Sie waren beide in Leipzig, sind sich aber nie begegnet: Johann Wolfgang Goethe und Friedrich II. von Preußen, von seinen Apologeten auch gern mal Friedrich der Große oder der Alte Fritz genannt. Dass sie tatsächlich zwei politische Gegenspieler waren, ist selbst Goethe-Freunden meist nicht bekannt. Wie auch? Der grimmige Friedrich las ja keine deutsche Literatur.
Er bevorzugte die Franzosen. Und auch nicht alle. Im Grunde war der aristokratische König mit seinem Literaturgeschmack im Frankreich des 17. Jahrhunderts hängen geblieben. Im ganz klassischen, in dem es als höchste Kunst galt, die strengen Regeln des griechischen Dramas zu beachten. Ein Teil davon blühte auch noch im Frankreich des 18. Jahrhunderts.
Dass das Wirken des Preußenkönigs das Leben des jungen Frankfurter Bürgersohnes schon in dessen Kindheit überschattet, weiß man. Man kann es auch in “Dichtung und Wahrheit” ausführlich nachlesen. Zumeist überliest man es. Das ist so lange her, dass man es in der Regel auch nicht wirklich in die politischen Gewitter der Zeit einordnet. Und es ist ganz gewiss ein Verdienst der deutsch-us-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Katharina Mommsen, dass sie bei ihren Forschungen aus dem üblichen Kanon der Literaturwissenschaftler ausbricht und Goethe, auf den sie sich spezialisiert hat, nicht nur im üblichen (und oft zitierten) Kontext seiner literarischen Zeitgenossen sieht, sondern im Kontext von Zeitgeschehen und Politik.
Das blendet auch der Goethe-Leser gern aus, dass der frisch studierte Jurist ja nicht nach Weimar ging, um dort zum Dichterfürsten Deutschlands zu werden. Das wurde er quasi nebenbei. Goethe folgte der Einladung des jungen Fürsten, um in Weimar Minister zu werden. Einer von drei Geheimen Räten, die qua Amt eigentlich den regierenden Fürsten berieten – aber in Wirklichkeit die ganze praktische Regierungsarbeit erledigten. Und wovon Leute wie Platon, Bacon oder Voltaire immer nur träumten, das konnte Goethe tatsächlich tun: einen Fürsten, den acht Jahre jüngeren Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, erziehen und ein Land reformieren – eben dessen Herzogtum. Und Vorbild bei dieser Reform des kleinen Fürstentums war ihm das friderizianische Preußen, dessen strenge Amtsverwaltung und die preußische Sparsamkeit. Erst diese Reformen sorgten dafür, dass Weimar die finanziellen Spielräume bekam, zum Musensitz zu werden.
Und dabei steckte Goethe keineswegs in einer komfortablen Position. Denn das Fürstenhaus war auch noch mit dem preußischen Königshaus verwandt. Und Carl August war noch dazu geradezu vernarrt in Friedrich den Großen, hatte extra eine Leibgarde preußische Husaren und träumte von einer erfolgreichen Militärkarriere. Die Karriere bekam er dann ja auch in preußischen Diensten. Auch das etwas, was man so beiläufig registriert, wenn man Goethes “Kampagne in Frankreich” liest und sich ärgert, dass das keine “richtige” Kriegsreportage wird. Dass Goethe aber alles Militärische verabscheute und von Herzog Carl August gegen seinen Willen mit in dieses am Ende desaströse militärische Abenteuer geschleppt wurde – darauf macht Katharina Mommsen in ihrer lebendigen Analyse all der Quellen aufmerksam, in denen Goethe sich mit Friedrich II. beschäftigt.
Immerhin überschattete der Siebenjährige Krieg (1756 – 1763) die Hälfte der Kindheit von Goethe. Der Krieg regte den Jungen durchaus auch zu wilden, unbarmherzigen Kriegsspielen an. Über die der gealterte Goethe in “Dichtung und Wahrheit” schon sehr kritisch reflektiert. Zu Goethes Friedrich-Erfahrung gehört auch sein Studium in Leipzig 1765 bis 1768. Und die Leipziger hatten über den Siebenjährigen Krieg etwas anderes zu erzählen als friderizianische Heldentaten. Mehrfach war Besatzung in der Stadt gewesen. Der Preußenkönig hatte die Stadt finanziell ausgeplündert. Und entsprechend kritisch betrachteten die Leipziger auch all die Schlachten des viel zu langen Krieges – es waren nicht die Sachsen, die den Grundstein für Friedrichs heroische Überhöhung in den Geschichtsbüchern legten.
Aber die Entstehung des friderizianischen Mythos fällt andererseits trotzdem in diese Zeit. Goethe registrierte mit offenen Ohren, wie das eben noch dumpf wirkende deutsche Flickenteppichland auf einmal anfing, militärisch zu denken und sich den ersten nationalen Mythos schuf. Ein Mythos, der für Goethe ins Reich des Dämonischen gehörte. Er registrierte sehr wohl die Wirkung, die Friedrich II. mit seinen Kriegen entfaltete. Aber er konnte sie menschlich nicht begreifen. Denn er sah auch in Weimar, wie der Preußenkönig sich an den Ressourcen anderer Länder bediente, um mit Sturheit seine eigenen Interessen und den Traum von der Vormacht Preußen-Berlins durchzusetzen. Goethe als Minister war mit den rücksichtslosen Rekrutierungsforderungen Preußens konfrontiert und hatte alle Mühe, den preußischen Zugriff auf die Weimarer jungen Männer zu begrenzen.
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Seine Verbitterung verpackte Goethe dann – ganz Weltmann – in einem kleinen am Weimarer Hof aufgeführten Drama. Von dem Friedrich, der im ganzen Reich seine Spione hatte, natürlich erfuhr. Und Katharina Mommsen liegt wohl nicht daneben, wenn sie Friedrichs Pamphlet “De la littérature allemande” als direkte Reaktion Friedrichs II. auf Goethes literarische Kritik interpretiert. Immerhin scheint der Grundteil der Schrift schon 30 Jahre zuvor entstanden zu sein. Selbst Friedrichs Zeitgenossen schüttelten nur die Köpfe, dass der Soldatenkönig nicht das Mindeste von den literarischen Entwicklungen zwischen 1750 und 1780 mitbekommen haben sollte, von Lessing, Gleim, Klopstock und Goethe, dessen “Werther” der erste echte Weltbestseller der deutschen Literatur wurde.
Aber Goethe wird in der Schrift nicht erwähnt. Nur einen grimmigen Rundumschlag gegen den “Götz von Berlichingen” findet man, den Friedrich in Berlin gesehen haben musste, wo er mehrfach erfolgreich aufgeführt wurde. Natürlich ging es Friedrich nicht um den Dichter Goethe. Der war ihm schnurzegal. Treffen wollte er den Minister, der sich gegen die kriegerischen Gelüste Carl Augusts stellte, die preußischen Aushebungen behinderte und sogar das Weimarer Heer halbiert hatte, weil er das Geld lieber für die Weimarer Kanalisation anlegte.
Das Bild, das sich ergibt, sind am Ende zwei unvereinbare deutsche politische Alternativen: einerseits das kriegerische friderizianische Preußen (das ja bekanntlich die nächsten Kapitel der deutschen Geschichte bestimmte) und der “Geist von Weimar”, wie es im Klappentext heißt – das auf Friedenspolitik bedachte Weimar, das lieber Kunst und Wohlstand mehrte, als die Landeskinder in Kriegsgemetzel zu schicken.
Goethe und der Alte Fritz
Katharina Mommsen, Lehmstedt Verlag 2012, 19,90 Euro
Es ist wohl das richtige Buch im Jubiläumsjahr Friedrichs II., ein Buch, das auch dem wieder bejubelten Säbelrasseln ein Kontra entgegensetzt. Und zwar ein richtiges. Ein Buch für alle, die längst die Nase voll haben von den kriegsbereiten Dämonen, die deutsche Geschichte 200 Jahre lang in ein blutiges Waffenarsenal verwandelt haben. – Selbst das erzählt Katharina Mommsen recht genau: Wie Goethe Berlin besuchte und dort auch Friedrichs Waffenarsenal besichtigte – säuberlich geplant für die Zeit von Friedrichs Abwesenheit aus Berlin. Und nur wenig dokumentiert, denn auf dieser Reise hielt Goethe auch schriftlich die Klappe, weil er genau wusste, dass Friedrich auch die Post überwachen ließ. Manche deutschen Traditionen sind älter, als man denkt. Und dieser Goethe ist einem viel vertrauter, als man bisher gedacht hat.
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