Die Kirche hat ein Problem. Zumindest, wenn man diversen Medienberichten folgt, die gern und genüsslich über Kirchenaustritte berichten. Vielleicht sind es auch gar nicht so viele. Aber in der katholischen Kirche ist man mittlerweile besorgt. So besorgt, dass es jetzt auch ein kleines Büchlein für Leute gibt, die gerade aus der Kirche ausgetreten sind.
Zusammengetragen hat es Hans-Jürgen Vogelpohl, selbst Priester und Seelsorger. Vor 10 oder 20 Jahren wäre sein Buch so nicht denkbar gewesen. Das ist einige Skandale und öffentliche Debatten her. Aber fragen darf man ruhig: Sind die Skandale schuld?
Oder geht es den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland nicht genauso wie etwa den Parteien? Eine ganze Gesellschaft hat sich verändert? Hat sie auch. Ein Blick auf eine Statistik, die das Bundesamt für Statistik 2010 veröffentlicht hat, zeigt, dass der Prozess der Säkularisierung schon länger im Gang ist. Die deutsch-deutsche Vereinigung 1990 hat ihn nur für einen kurzen Zeitraum zugespitzt. Aber auch im Westen der Republik war er schon längst im Gang.
1956 kamen auf 26,7 Millionen Mitglieder der Evangelischen Kirche und 24,5 Millionen Mitglieder der Katholischen Kirche ganze 2,1 Millionen Westdeutsche, die sich entweder zu einer anderen Religionsgemeinschaft bekannten oder als konfessionslos. In den Folgejahren wuchsen alle drei Gruppen sachte vor sich hin.
Die Bundesrepublik erlebte ihr Wirtschaftswunder und niemand beschäftigte sich wirklich ernsthaft mit der Frage, ob Kirche noch eine wichtige Rolle spielte im Land. Sie war einfach da. Das Fernsehen übertrug ganze Gottesdienste und Bischöfe meldeten sich regelmäßig auch in politischen Fragen zu Wort.
Das Jahr 1968 ist eine kleine Zäsur, denn da begannen sich gerade jüngere Leute intensiver mit der Rolle von Kirche in ihrem Leben zu beschäftigen. Während die beiden christlichen Kirchen 1972 die Höchstmitgliederzahlen in der bundesdeutschen Geschichte verzeichneten und seitdem beide einen mählichen Mitgliederrückgang verzeichnen, nahm die Zahl der Nicht-Kirchenmitglieder in den Folgejahren genauso mählich zu.
Was auch mit der Zuwanderung nach Deutschland zu tun hat. Das darf auch nicht vergessen werden. 1970 waren erstmals 5 Millionen Bundesbürger nicht in einer der beiden großen Kirchen, was immer noch eine Minderheit von 9 Prozent der Bundesbürger war. 1989 überschritt diese Zahl erstmals die 10-Millionen-Marke. Die deutlichsten Mitgliederverluste verzeichnete dabei die Evangelische Kirche, die trotzdem noch 25 Millionen Mitglieder hatte. Die Römisch-Katholische hatte 26,7 Millionen.
Und dann kamen Mauerfall, die herzinnigste Umarmung und die Wiedervereinigung. Mit dem statistischen Effekt, dass die Evangelische Kirche kurzzeitig über 29 Millionen Mitglieder hatte und die Katholische über 28 Millionen. Dafür war die Gruppe der Nicht-Kirchenmitglieder auf einmal doppelt so groß: 22 Millionen. Der säkularisierte Osten machte sich deutlich bemerkbar.
Das hätte vielleicht noch niemanden geängstigt, wenn es den eh schon vorhandenen Säkularisierungstrend im Westen nicht noch verstärkt hätte. In den Folgejahren gab es die eigentlichen Rekordspitzen an Kirchenaustritten.
Was dazu führte, dass die drei Gruppen – Katholische und Evangelische Kirche und Nicht-Kirchenmitglieder 1997 praktisch gleich stark waren – jeweils 27 Millionen. Seit 1998 ist die Gruppe der Nicht-Kirchenmitglieder die größte. Und sie wächst weiter, was nun eindeutig nichts mehr mit dem ungläubigen Osten zu tun hat. 2003 überschritt sie die 30-Millionen-Marke. 2008 kamen auf 32 Millionen Nicht-Mitglieder 24,5 Millionen Mitglieder der Evangelischen und etwas über 25 Millionen Mitglieder der Katholischen Kirche.
Der Rückgang hat nicht nur mit Austritten zu tun, sondern auch mit der drastisch gesunkenen Geburtenzahl in Deutschland. Die demografische Entwicklung macht sich immer bemerkbar. Sie kennt keine Konfessionsgrenzen. In Sachsen werden Kirchenbezirke neu zugeschnitten, um das Kirchenleben auch weiterhin finanzierbar zu halten.
So mancher Sachse ist freilich aus sehr simplen finanziellen Gründen aus der Kirche ausgetreten. Die Kirchensteuer ist zwar ein überschaubarer Obolus. Aber ein Bundesland, das so konsequent auf Niedriglöhne setzt, wie es Sachsen tut, zwingt selbst überzeugte Gläubige dazu, über jeden Euro dreimal nachzudenken.
Auch dann, wenn ihm die Gemeinde eigentlich wichtig ist. Und die Fragen, mit denen sich Vogelpohl beschäftigt, drehen sich natürlich darum: Was bedeutet heute so eine Gemeinschaft? Die erlebte Nächstenliebe? Das gemeinsam erlebte Kirchenjahr? Das Bekenntnis zu menschlichen Werten?
Kirche ist ja nicht nur Brimborium. Sie ist auch etwas, was menschlichem Leben eine Struktur geben kann, wenn der Einzelne selbst nicht stark genug ist, sich diese zu schaffen. Sie ist in manchen Punkten auch längst ein Widerspruch zu einer Gesellschaft, die selbst in amtlichen Verlautbarungen der Bundesregierung alles auf Wettbewerb, Entgrenzung, Ruhelosigkeit, Verkäuflichkeit und Dauerbereitschaft setzt.
Mancher hat – das klingt auch an – in seiner Kirche vergeblich nach dem Trost und dem Rückhalt gesucht, den er in dieser immer wilderen Zeit braucht. Und für Manchen wirken die uralten Diskussionen um Zölibat, Verhütung, Abtreibung oder Zulassung von Geschiedenen geradezu abstrus. Es sind – bei aller Liebe – nicht mehr die Fragen der Gesellschaft und der Gegenwart.
Dass da etwas fehlte bislang, versinnbildlicht ein einziges Foto im Buch – genau das Foto, das für den Titel steht „Unsere Tür steht immer offen“. Es ist ein Foto von jenem legendären Schild, das seit den 1980er Jahren vor der Leipziger Nikolaikirche stand. Einer protestantischen Kirche, die sich schon in DDR-Zeiten gezwungen – oder bewegt – sah, ihre Räume den drängenden Fragen der Zeit zu öffnen.
Was an einigen wenigen mutigen Akteuren lag. Aber schon die Wahl dieses Fotos zeigt, wie sehr sich auch Hans-Jürgen Vogelpohl des Widerspruches bewusst ist. Des Widerspruches einer rasend gewordenen Zeit, in der die Marktliberalisierer jede, aber auch jede Struktur aus dem Leben und Alltag der beschäftigten und nichtbeschäftigten Menschen herausrationalisieren – und der Rolle, die Kirchen dabei spielen könnten und müssten. Als Widerspruch und als Heimstatt.
Als Heimstatt-Angebot. Denn wirklich zurückdrehen können sie den Säkularisierungsprozess nicht. Auch wenn suchende Schäfchen wie der Journalist Peter Seewald bei der Suche nach ihrem eigenen Lebenssinn irgendwann zurückkehren.
„Auftreten statt Austreten!“ ist in diesem Büchlein der neue Slogan für alle, die hadern mit ihrer Kirchenmitgliedschaft. Aber irgendwie gilt das auch für die ganze Gesellschaft. Vielleicht ist das sogar einer der Denkfehler von Kirche heute: dass sie sich als Rückzugsraum außerhalb der gesellschaftlichen Dissonanzen sieht, sich als Gemeinschaft der Gläubigen allein versteht. Was dann wieder beiträgt zur Partikularisierung, die sich so schön anbietet als Plünderfeld für die Leute, die alles ihrer Wettbewerbsraison und ihrem Nützlichkeitsdenken unterwerfen.
Unsere Tür steht immer offen
Reinhard Lettmann, Hans-Jürgen Vogelpohl, St. Benno Verlag, 5,00 Euro
Es ist im 21. Jahrhundert nicht unbedingt leicht, an all die schönen Geschichten von Petrus, Paulus und Judas zu glauben. Auch wenn sie Vogelpohl hier noch einmal erzählt, als würden sie dadurch wahrer. Man kann nicht einfach so tun, als ob Bibelforschung und Archäologie damit nichts zu tun hätten.
Vielleicht muss Kirche sogar lernen, sich nicht mehr als ausschließende Gemeinschaft zu verstehen – die Gläubigen und Beitragszahler drin, die anderen draußen. Sonst können die Türen offen stehen, so weit sie wollen, es kommt nicht zum eigentlich wichtigen Diskurs.
Und das ist nicht der über Abendmahl, Hostie oder jungfräuliche Geburt, sondern der über die tragenden Werte einer Gesellschaft: Respekt, Toleranz, Gerechtigkeit, … um mal anzufangen mit der Aufzählung.
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