Es ist erst 40 Jahre her, dass das Dampflokzeitalter in Deutschland zu Ende ging, schreiben Gerd Lübbering und Thomas Pflaum im Vorwort. Das klingt nicht viel. Aber selbst für die beiden Männer, die das Dampflokzeitalter noch zu Ende gehen sahen, ist es das halbe Leben. 1970 bis 1977, als die Bundesbahn nach und nach die Dampfloks außer Betrieb nahm, waren die beiden noch jung, Teenager, ein angehender Jurist, ein angehender Bauingenieur. Beide echte Dampflok-Besessene.
Die gibt es auch heute noch. Man sieht sie mit stolzgeschwellter Brust und teurer Kamera stehen an den wenigen verbliebenen Strecken von Traditionsbahnen, wo der Wilde Robert qualmt und faucht oder die Brockenbahn sich mit gewaltigem Schnaufen die Kurven hinaufackert. Aber das ist museale Idylle, hat nur noch wenig mit einem Zeitalter zu tun, in dem Dampflokomotiven die Wirtschaften des ganzen Kontinents am Laufen hielten, in dem ihre mächtigen schwarzen Körper zum Alltag gehörten auf den Bahnstrecken, in den Bahnhöfen und Lokschuppen.
Das Erstaunliche an diesem Buch für manchen Eisenbahnfreund aus Sachsen wird sein: Es zeigt die alte, erfolgreiche Bundesrepublik in einem Moment, als eine technische Entwicklung noch parallel zu der in der DDR ablief, die ihre Dampflokomotiven im gleichen Zeitraum durch Diesel- und Elektroloks ersetzte. Zwei der alten Reichsbahn-Loks sieht man sogar noch auf den Fotos in diesem Band, denn auch den grenzüberschreitenden Verkehr wickelte die DDR bis in die 1970er Jahre mit Dampfloks ab. Für Eisenbahnfreunde im Westen etwas ganz Besonderes, denn augenscheinlich konnten sie mit den Reichseisenbahnern fleißig Erinnerungsstücke aus dem alten Reichsbahnbestand tauschen.Die Einstellung des Dampflokbetriebs im Bereich der Bundesbahn war ein längerer Prozess, in dem Gleisnetz um Gleisnetz abgearbeitet wurde. Den Eisenbahnfreunden waren die diversen letzten Fahrten von Dampflokomotiven auf wichtigen Streckenabschnitten bekannt, oft auch schon lange vorher, so dass genug Zeit blieb, die rauchenden Kolosse noch einmal an berühmten Steigungen, in Tälern, auf rußgeschwärzten Bahnhöfen zu fotografieren. Und während das Andere schon fleißig in Farbe taten, entschieden sich Lübbering und Pflaum für Schwarz-Weiß-Filme, wollten die fauchenden Giganten so abbilden, wie sie auch im klassischen Dampfzeitalter abgebildet wurden. Außerdem waren Schwarz-Weiß-Filme feinkörniger.
Was die beiden jetzt überrascht bestätigt sahen, als sie Tausende von Negativen aus ihrem Archiv digitalisierten: Da wurde auf einmal Vieles sichtbar, was selbst beim emsigsten Belichten in der Dunkelkammer auf Fotopapier nicht herauszuholen war. Da werden die seinerzeit eingefangenen Lichtspiele im wirbelnden Dampf wieder sichtbar, das Glänzen des Öls auf den Loks. Die Bilder bekommen wieder die Tiefe, die die beiden jungen Fotografen damals beim Auslösen sahen. Und die rund 80 für diesen Bildband ausgewählten Motive zeigen, dass die beiden eben nicht einfach drauflosfotografierten, sondern sich über Bildkomposition und Tiefenwirkung immer schon vorher Gedanken gemacht hatten. Sie haben ihre Standpunkte akribisch gewählt, sind oft schon in früher Morgenstunde losgezogen, um die Lokomotiven aus den Depots fahren zu sehen und den wirbelnden Dampf in der noch kalten Luft.
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Sie haben aber auch trübe und winterliche Tage genutzt, weil dann die heranfauchenden Züge wieder in ganz anderer Inszenierung erscheinen. Sie haben die Werkstätten besucht und den Eisenbahnern beim Befüllen der Loks mit Wasser und Kohle zugeschaut. Und auch diese Bilder zeigen, wie genau die jungen Fotografen das Bild schon vor Augen hatten. Man vergisst beinah, dass es ja auch ein Zeitalter war, in dem Blendenzeiten noch penibel gewählt werden mussten und erst das Ergebnis in der Dunkelkammer zeigte, ob man wirklich im richtigen Moment abgedrückt hatte. Oder ob die Beleuchtung richtig gewählt war. Was gerade bei Aufnahmen nächtlich erleuchteter Bahnhöfe und Lokschuppen wichtig war.
Die Bilder sind im Band ohne größere störende Begleittexte abgebildet. Man kann sich ganz und gar dem Bilder-Abenteuer Dampflok widmen. Da es aber doch für jedes Foto noch viel zu erzählen gibt – über die Geschichte der abgebildeten Lok, des Bahnhofs, der Strecke oder den Zeitpunkt der Aufnahmen, ist das im Anhang noch einmal übersichtlich geboten – mit einer Miniaturdarstellung der Fotos daneben.Im Hause Lehmstedt ergänzt dieser Band natürlich den eindrucksvollen Band über den Hauptbahnhof Leipzig, in dem Helge-Heinz Heinker die Geschichte des Leipziger Vorzeigebahnhofs erzählt, der gleich nach dem 1.000jährigen Stadtjubiläum 2015 selbst ein großes Jubiläum feiert: den 100. Jahrestag seiner Fertigstellung.
Auch der begann ja einst mit Dampflokgefauche.
Die Fotos von Lübbering und Pflaum sind so dicht dran am Thema, dass man das Gemisch aus Wasserdampf und Kohlenrauch fast zu riechen glaubt. Selbst die Bahnhöfe und Stationen, die ins Bild kommen, erinnern noch an ein Zeitalter, das im Osten dann freilich erst nach 1990 zu Ende ging. Da sind noch die rußgeschwärzten Wärterhäuschen, Bahnhofsgebäude und die Perrons mit den gusseisernen Säulen zu sehen, die die Bahn dann in einem gewaltigen Kraftakt im ganzen Land durch moderne, gesichtslose Betonlandschaften ersetzt hat, an denen heute durchdesignte Diesel- und E-Loks halten. Ob das jemals so eindrucksvolle Bildbände ergibt, darf wohl bezweifelt werden.
Mit dem Ende des Dampflok-Zeitalters hat die Eisenbahn auch ein großes Stück ihrer einstigen Faszination eingebüßt, eine Faszination, die hunderte Dichter besungen haben, erschreckt und fasziniert zugleich. Da konnte noch passieren, was Tucholsky zum Beispiel in “Rheinsberg” kurz und launig beschreibt: “Sie hielten, mitten im Walde, auf der Strecke. Die Köpfe heraus; die Beamten waren zurückgelaufen, hatten Schaufeln mitgenommen: die Lokomotive mußte Funken ausgeworfen haben, ein kleiner Brand war entstanden …”
Dampfzeit
Gerd Lübbering, Thomas Pflaum, Lehmstedt Verlag, 29,90 Euro
Heute hält der Zug nicht mal, wenn die Türen abfliegen, manchmal auch nicht mal mehr am vorgesehenen Bahnhof. Der Zug fährt einfach durch, weil der Computer gerade anderweitig beschäftigt war.
Natürlich ist das hier ein Bildband für Leute, die noch das stille Fasziniertsein vom Dampfzeitalter in sich tragen. Und die sich Abende reserviert haben, an denen sie es einmal nicht eilig haben müssen. An denen sie sich in diese Bilder vertiefen. Zugabteile eignen sich dazu heute aus Platzmangel nicht mehr. Deswegen ist ein gemütlicher Sessel empfehlenswert. Und wenn einen dann die Nostalgie packt, kann man ja im Oktober mal bei den Leipziger Dampfbahnern vorbeischauen.
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