In den letzten Tagen sah man sie wieder: Staunende Leute auf der Straße, die - statt auf die rasenden Leipziger im Fußgängerverkehr zu achten - andächtig in die Höhe starrten und den Mund nicht wieder zu bekamen. Und der ergrimmte Leipziger fragte sich: Was ist denn da wieder los? - Der Leipziger schaut ja nicht mehr nach oben. Kennt er ja alles. Nur Armin Kühne und Niels Gormsen beweisen mal wieder, dass das wohl nicht so ist.

Sie haben in den letzten Jahren schon mit mehreren großen Bildbänden die Leipziger verzückt und verblüfft. “Leipzig im Wandel” (Edition Leipzig) und “Leipzig. Stadt des Wandels” (Passage Verlag) heißen die Bände, die von einem simplen Effekt leben: Die Schwarz-Weiß-Fotografien, die Armin Kühne als freiberuflicher Fotograf für Leipziger Tageszeitungen (und sein Privatarchiv) seit 1979 und bis in die Monate nach der deutschen Wiedervereinigung angefertigt hat, stehen neuen, farbigen Fotos von denselben Gebäuden gegenüber: frisch saniert, rekonstruiert, gerettet.

So konsequent und ausdauernd wie Armin Kühne hat wohl kein zweiter Fotograf Leipzig und seine baulichen Veränderungen eingefangen. Mit dem ehemaligen Stadtbaurat Niels Gormsen kam ein Autor mit dazu, der die Akten- und Amtsgeschichten zu den abgebildeten Gebäuden beisteuern konnte, manche Geschichte eine Anekdote an der anderen. Denn Bauen war in Leipzig gerade in den letzten 22 Jahren immer auch ein Abenteuer. Obskure Gestalten tauchten da auf, engagierte Investoren, mutige Hausbesitzer, erfolgreiche Denkmalschützer. Manches Gebäude, dem in seiner ruinösen Tristheit fast nichts mehr von seiner einstigen Schönheit anzusehen war, fand mit neuer Nutzung und kluger Anpassung zurück ins Straßenbild.Die Leipziger waren ja nicht verblüfft, dass all diese alten Bauschönheiten wieder da waren. Da waren ja die meisten immer gewesen. Doch die Gegenüberstellung der Fotos, zwischen denen meist nur wenige Jahre lagen, machte selbst den hartleibigsten Eingeborenen sichtbar, wie rasant der Wandel tatsächlich war, wie komplett sich das Gesicht der Stadt binnen eines Jahrzehnts geändert hatte. Das geht ja weiter. Auch wenn die Bautätigkeit selbst von Amtsseite eher als bescheidener eingeschätzt wird. Immer noch werden jedes Jahr dutzende alte, das Straßenbild prägende Gebäude wieder hergerichtet. Und der Betrachter ahnt gar nicht, wie oft Bauherren und Architekten dann in den Archiven waren, um die ursprünglichen Details zu rekonstruieren.

Und da sieht man Armin Kühne schon beinah bei seiner unermüdlichen Vor-Ort-Arbeit. Kein Richtfest, keine Sanierung lässt er sich entgehen, keinen dieser kleinen sensationellen Momente, die auch heute noch Leipziger Baufirmen als Sensation empfinden, wo sie doch in den letzten Jahren so viel Schmuck und Zierrat wieder in luftige Höhe gebracht haben.

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Zu mancher Turmbekrönung gab es auch Einladungen für die gesamte Presse. Berühmte Türmchen fanden wieder an Ort und Stelle. Und nicht nur die. Armin Kühne hat allein für diese Broschüre rund 300 Leipziger Türmchen fotografiert. Oft einfach beiläufig, wenn er irgendwo in der Stadt unterwegs war. Denn saniert sind noch nicht alle. Hinsehenswert schon. Und zuerst sieht man einen. Sagt sich: Aha. Und freut sich, wenn man dann wieder ein Türmchen entdeckt, genau richtig und prächtig hingesetzt vom Architekten. Nach dem dritten und vierten Türmchen beginnt man zu ahnen, wie sehr all diese phantasievollen Architekturdetails zur Leipziger Gründerzeitarchitektur gehören. Und nicht nur zu der. Doch die Fülle der Türmchen stammt natürlich genau aus dieser Zeit. Und man findet sie nicht nur in der Innenstadt, wo sie auch Messehäuser, Paulinum und die Rathäuser krönen.

Man sieht sie auch in allen Wohnvierteln der Stadt, in einigen, wo mehr Geld wohnte, natürlich umso häufiger und umso detailreicher. Kaum eine Straße ist ohne so einen Hingucker. Und viele Leipziger, die seit Jahren hängenden Hauptes ihre Wege laufen, werden überrascht sein von dem, was Armin Kühne auch in ihrem Viertel gesehen und fotografiert hat.

Das ist in diesem Band nicht ganz systematisch geordnet, nach Ortsteilen zum Beispiel, was ja möglich gewesen wäre. In einem Einführungstext nimmt Niels Gormsen den Leser erst einmal mit auf die Reise in die Leipziger Baugeschichte, zu der seit dem Mittelalter logischerweise auch immer Türme und Türmchen gehörten. Und zwar so viele, dass selbst gestandene Historiker so ihre Schwierigkeiten haben, alle zuzuordnen. So ging es ihnen zum Beispiel mit der ältesten Stadtansicht Leipzigs von 1537, einem der Reisebilder des Pfalzgrafen Otheinrich. Wenn man die Türme nicht richtig zuordnet, kann man auch die Himmelsrichtung nicht zuordnen, aus der die Stadtansicht gezeichnet wurde.Heute ist das nicht mehr ganz so schwer. Stadtansichten entstehen nicht mehr im Abstand von 10 Jahren, sondern eher im Sekundentakt. Trotzdem wundert sich natürlich auch mancher Leipziger über ein Türmchen, das ihm auf einmal in den Blick fällt, als wäre es eben noch nicht da gewesen. Zu vielen markanten Aufbauten erzählt Niels Gormsen die Bau- und Aktengeschichte. Auch für Leipziger Fußgänger eine Quelle, denn es steht ja in der Regel nie unten am Gartenzaun, was sich in den so auffälligen Höhepunkten befindet, wie sie entstanden, ob man drin wohnen kann oder ob das ganze nur Schmuck ist. Und es gibt auch durchaus luftige Höhen, in denen Wohnräume, Tagungsräume und Werkstätten zu finden sind. Da darf man neidisch sein. Denn zumeist verbindet sich der attraktive Raum ja auch mit herrlichen Aussichten über die Stadt.

Natürlich erzählt Gormsen auch von den Mühen, die manche Rekonstruktion mit sich brachte. Oft gab es die Bauzeichnungen nicht mehr, manchmal waren die Zeichnungen auch so detailliert, wie dann doch nicht gebaut wurde. Viele Aufbauten waren in DDR-Zeiten so gründlich verrottet, dass die einstigen Dachschönheiten quasi von den Profis nachempfunden und sowieso neu gebaut werden mussten.

Für etliche Fotos hat sich Armin Kühne natürlich auch besondere Fotostandpunkte gesucht. Auch die kann man suchen, wenn man sich das zutraut. Der Rest ist eine Welt, die es zu entdecken gilt. Und die 300 sind, das versichert Niels Gormsen, längst nicht alle Türmchen. Man darf sich also auch zum Selber-Entdecken animieren lassen. Wer noch nicht bewandert ist in der Materie, kann ja einfach in der Mitte anfangen mit dem Turm des Alten Rathauses, dem Seume-Türmchen und dem Renaissance-Erker mit Türmchen in Barthels Hof. So ungefähr lotst auch Gormsen die Leser ins Buch, auch wenn er schon früh beginnt aus- und abzuschweifen. Denn natürlich gibt es in der Fülle auch Türmchen, die sich ähneln. Auf ganzen Seiten sind Beispiele uns unterschiedlichen Stadtteilen zusammengestellt, die zeigen, dass der eine Hingucker nicht ganz zufällig dem anderen ähnelt. Leipzig ist auch eine Stadt für Déjà-vus.

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Ein Blick nach oben
Niels Gormsen; Armin Kühne, Passage-Verlag 2012, 14,50 Euro

Wer’s lieber etwas systematischer will, findet das Straßenverzeichnis auf den Umschlaginnenseiten. Und am Ende des Buches gibt es auch noch einen Ausblick auf die Versuche neuzeitlicher Architekten, den Turm als Architekturelement wieder zu gewinnen. Was zeitweise in eine Orgie der “Leipziger Keksrolle” mündete. Ist eben nicht so einfach, die Sache mit dem Türmchen.

Ein Buch für alle, die Leipzig mal mit anderen Augen sehen wollen und aus anderer Perspektive. Welche Stadt hat das schon? – Über 300 Höhepunkte! Und viele davon einmalig schön.

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