Eigentlich unvorstellbar: Ein Literaturinstitut, an dem junge Leute ihre Schreibfähigkeit üben - und es geht nicht mit Veröffentlichungen ins Publikum. Literatur lebt auch vom öffentlichen Diskurs. Doch es war erst Claudius Nießen, dem es 2003 erstmals gelang, eine solche Gemeinschaftsanthologie auf die Beine zu stellen. Der von Manchem bekrittelte Titel: Tippgemeinschaft.

Nießen, der damals selbst am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studierte, betreut heute andere Projekte. Doch die sechs Herausgeber der zehnten, der Jubiläumsausgabe, hatten natürlich kein Problem, ihn zur Teilnahme und zu einem Vorwort für das Jubiläumswerk zu gewinnen. Kurz und trocken erzählt er, wie alles begann und warum das Institut selbst auch damals nicht zu bewegen war, als Herausgeber zu fungieren. Immerhin ist es ein Spagat: Wer als Institut so eine Veröffentlichung betreut, wertet auch. Denn anders als drüben bei den Kolleginnen und Kollegen von der malenden Zunft kann man nicht einfach alle Texte an die Wand hängen, egal, wie gelungen sie sind. Man muss auswählen. Druck kostet Geld. Und wenn das Produkt überhaupt Käufer finden soll, darf es auch nicht zu dick sein. Nicht dicker eigentlich als ein Rundgang drüben durch die Hochschule für Grafik und Buchkunst.

Man muss also auswählen. Aber wie? – Die Studierenden um Claudius Nießen konnten freier agieren. Sie konnten Texte beisteuern, die ihnen am Herzen lagen und wichtig genug, sie dem kritischen Blick des Lesers anzubieten. Der erste Band wurde ein Einblick in eine offene Werkstatt. Offen auch in den Ergebnissen. Nicht jeder muss schon während der Zeit des Studiums seinen Ton, sein Thema, seinen Stil gefunden haben. So etwas braucht Zeit und Reife. Und wer die “Tippgemeinschaften” der letzten Jahre gesammelt hat, kann vergleichen, findet hier frühe Arbeiten von Leuten, die heute mit professionellem Selbstbewusstsein ihre Bücher veröffentlichen, findet Überraschendes und Zufälliges.Nach neun Jahren erweist sich, wie treffend der Titel “Tippgemeinschaft” ist: Hier findet sich so Manches zusammen, was sich im normalen Autorenleben nie wieder begegnet. Hier entstehen auch nachlesbare Gemeinsamkeiten.

Das Jubiläumsbuch ist natürlich ein besonderes: Hier präsentieren sich nicht nur die aktuell am DLL Studierenden. Sie haben sich auch Gäste eingeladen – Autorinnen und Autoren, die vor ihnen in den Seminaren in der Wächterstraße hockten, ihren Weg suchten und fanden und die heute selbst zu den Gestandenen zählen. Die Leipziger Dichterinnen Kerstin Preiwuß und Ulrike Almut Sandig zum Beispiel. Wobei Sandig mit einem Tagebuch-Ausflug nach Finnland überrascht. Nicht die einzige Reiseprosa in diesem Band. In etlichen Geschichten und Romanausschnitten werden Koffer gepackt, dienen Ausflüge zur intensiveren Begegnungen der Heldinnen und Helden mit sich, ihrer Liebe, dem Leben und da und dort auch der buckligen Verwandtschaft.

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Die Reiselust verblüfft. Aber Zufall ist sie wohl nicht. Denn jede Reise ist auch ein Bild fürs eigene Suchen. Sie ist ein Prüfstein fürs eigene Welterleben. Und sie bringt fast automatisch Bewegung in Geschichten, die in deutschen Landen so gern ins Innerliche tendieren. In den tollen inneren Monolog zumeist, der auch in etlichen Prosastücken zum inneren Dialog wird: So kann man sich mit Abwesenden unterhalten. Ein bisschen melodramatisch und bedeutungsschwanger das Ganze – der Leser hat jedes Mal Angst, die Geschichte endet unverhofft an einem Grab auf einem Friedhof. Aber so nimmt man ja auch Familienkonflikte und demolierte Beziehungskisten wahr in so jungen Jahren. Mancher tut’s auch später noch. Etwas abgeklärter.

Wer so jung ist wie die meisten hier, für den sind Kindheit und Jugend schon große, ferne, spukende Geschichte. Was ja kein Grund ist, es nicht trotzdem zu erzählen. Denn auch auf so kurzen Distanzen erfährt das Leben ja Verluste – gehen Geborgenheiten flöten, gehen aber auch Landschaften und Familien verloren. Das ist noch wichtig. Und es ist atmosphärisch. Unübersehbar sind etliche der hier Versammelten ernsthafte Prosa-Autoren, wissen zu erzählen und Geschichten fließen zu lassen. Da und dort wird ein wenig mit der Prosa experimentiert, probiert man sich in dokumentarischer Fiktion oder mit der skurrilen Kurzgeschichte.Auf welch seltsamen Wegen eine zum Schreiben kommen kann, darüber erzählt Juli Zeh in ihrer Tübinger Poetik-Dozentur von 2010, aus der sie einen Auszug für die Anthologie zur Verfügung gestellt hat. Ihr Weg ist nicht wirklich seltsam. Es wird nur nicht oft erzählt in Deutschland, dass zum wirklich mitreißenden Schreiben auch der Rausch gehört, das Sich-Abgrenzen von den Forderungen des Tages oder des Studiums. Was nicht unbedingt mit dem Studium zu tun haben muss – aber auf jeden Fall mit dem Willen der Schreibenden zum “Nu grade!” Zum Losgelöstsein. Sie sagt ein wahres Wort, wenn sie betont: An den Leser darf einer, der schreibt, nicht denken. Dann schreibt man nämlich den Erwartungen anderer Leute hinterher, die oft genug selbst nur Fiktion sind.

Denn auch das stimmt: Menschen leben nicht in der wirklichen Welt. Die begreifen die meisten gar nicht. Sie leben in Geschichten. Nur was erzählbar wird, passiert, wird zum Konsens für die Lebenden. “Wir alle können das: uns irren, uns ‘falsch’ erinnern und uns auf diese Weise eine Wahrheit, ein Selbst und eine Welt erschaffen. Wir alle sind Götter in unseren kleinen subjektiven Universen, die durch das mysteriöse Wesen ‘Sprache’ miteinander vernetzt sind.”

Da darf man drüber nachdenken. Klingt nur beim ersten Mal so, als gelte das nur für Dichterinnen und Dichter. Gilt auch für die ganze Anthologie, in der man durchaus frisch aus der Werkstatt nachlesen kann, wie solche Welten erfunden werden. Mal mit mehr, mal mit etwas weniger Talent zur Konsequenz und zur Komplexität. Nur bei den Gedichten, so scheint es, ist man derzeit gemeinschaftlich auf einem anderen Weg.

Vielleicht ändert sich das auch mal wieder, wenn sie für die Lyrik auch mal wieder ein Schwergewicht wie einst Georg Maurer im Haus haben.

Das Verblüffende an Juli Zehs Vorlesung: Ihre Sätze gelten auch für alle nicht-literarischen Bereiche. Für die Wissenschaften genauso wie für Politik, Geschichtsschreibung und Journalismus. Die Grenzen sind fließend. Wer viel liest – Belletristisches und anderes – weiß das. Und der glaubt so manche Geschichte nicht mehr, die einem als einzig wahre und richtige aufgetischt wird.

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Tippgemeinschaft 2012
Normen Gangnus, Tim Holland u.a., Connewitzer Verlagsbuchhandlung Leipzig 2012, 14,00 Euro

Man kann sich also nur wünschen, dass auch aus dieser Tippgemeinschaft Autoren hervorgehen, die fähig sind, den diffusen Stoff unserer Welt neu und packend zu erzählen – und beim Leser das Wissen wach zu halten dafür, was gute und was schlechte Geschichten sind. Und welche Erzähler am Mikrophon draufloslügen, dass sich die Balken biegen.

Wer keine “erfundenen” Geschichten liest, dem fehlt die Antenne dafür. Der lässt sich leichter täuschen und um den Finger wickeln. Das wusste schon Till Eulenspiegel. Aber der kommt in dieser Anthologie nun freilich nicht vor.

www.dll-tippgemeinschaft.de

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