Auch dies hier ist ein Buch aus der Werkstatt des Schweizer Mathematikers und Lehrers Hans Walser. Ein Buch, das da ansetzt, wo Schule aufhört. Schule hört bei den drei Geraden in einem Dreieck auf, die sich in einem Punkt schneiden. Aber die Welt der Geometrie kennt noch mehr Geraden und Schnittpunkte, die sich derart in einem gemeinsamen Schnittpunkt treffen. Auch mehr als 99.
Aber irgendwo muss man auch in so einem Buch einen Punkt setzen. Einen Endpunkt. Um Vollständigkeit kann es hier nicht gehen, nur um die Faszination des Konstruierens. Zu der Hans Walser wieder einschlägige Geometrie-Programme für den PC empfiehlt. Ein kurzer, knapp 20 Seiten umfassender Teil des Buches beschäftigt sich mit der Theorie hinter dem Ganzen und den einschlägigen Formeln, leicht erweitert gegenüber der 1. Auflage von 2004. Denn das Konstruieren von Dreiecken, Vierecken, Kreisen, Kurven und diversen Geraden und Bögen ist das eine – es fasziniert, es führt oft genug zu eindrucksvollen Figuren.Aber selbst Leute, die sich dann, wenn andere vorm Fernseher versumpfen, an den Computer setzen und das Zeichenprogramm aufrufen, wollen wissen, warum einige Dinge passieren, welche Gesetze dahinter stecken. Denn Fakt ist auch: Die Geometrie fasziniert deshalb, weil sie oft in verblüffender Strenge zeigt, welche Grundmuster unserer Welt eingebaut sind, wie logisch alle Figuren und Formen auseinander folgen. Die geometrische Schönheit begegnet ja selbst dem staunenden Spaziergänger. Er findet sie im Aufbau von Blüten und Blättern, kann verblüfft sein über die klaren Strukturen und sich noch beim Weiterlaufen den Kopf zerbrechen über die Entstehung solcher Muster.
Den Grund dafür verrät natürlich auch die Geometrie nicht. Die Kurven, die sich hier in Blüten verwandeln, sind ja theoretische Konstruktionen. So wird das in der Natur ja nicht passieren. Da dürfen eher die Biologen rätseln über die Ursachen so klarer Symmetrien. Und über die Rolle der Mathematik dabei. Denn Mathematik ist ja – streng betrachtet – ein Abbild der Symmetrie, die unserer Welt zugrunde liegt. Die Formeln und Sätze helfen dem Menschen, der immer irgendwie herausbekommen will, warum die Dinge so sind wie sie sind – und nicht anders. Die mathematische Logik hilft, die Erscheinungen in eine schöne Gleichung zu fassen. Dass sich die begnadetsten Denker der Menschheit seit den alten Griechen damit beschäftigten, zeigt nur, wie viel Fähigkeit zur Abstraktion und zur Erfassung komplexer Zusammenhänge damit zusammen hängt. Schüler, die einen Mathematiklehrer oder eine Mathematiklehrerin haben, die ihnen diese Faszination zu vermitteln vermögen, dürfen sich glücklich schätzen.
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Die werden auch mit dem kurzen Einführungsteil ihre Freude haben – er ist tatsächlich so kurz, dass er so manchen dazu zwingen wird, seine Geometrie-Nachschlagewerke noch einmal zu Rate zu ziehen. Denn unübersehbar ist Walser auch hier Lehrer: Im Buch wird nur angerissen, was wichtig ist fürs Thema. Der Rest muss erarbeitet und erschlossen werden. Und eine Zeichnung von 30 übereinander gelegten Graphen zeigt dann auch noch einmal anschaulich, wie selbst durch solche Überlagerungen neue geometrische Muster aufscheinen. Scheinbar geisterhaft als hellerer Freiraum hinter dem dichten Gewebe von sich ähnelnden Kurven und sich überlagernden Schnittpunkten.
Ähnliche Bilder bekommt man mit sich überlagernden Kreis- und Geradebüscheln. Physiker werden gleich “Oha” sagen, denn das sind Bilder, die man von Interferenzen her kennt. Es ist also nicht nur die Biologie, der man auf einmal in der Geometrie begegnet, sondern auch die Physik. Aber das sind Seitenpfade. Das sind Stellen, an denen Wissenschaftler unruhig werden und “Warum?” fragen.
Für die Geometriker geht es danach los mit dem Konstruieren von Geraden, Kreisen, Winkeln, Senkrechten, Schnittpunkten – und das mit 99 Beispielen, von denen etliche auch von Leuten stammen, die von Walser erst auf diesen Spaß aufmerksam gemacht wurden. Und danach beschäftigt sich Walser recht eingehend auf 50 Seiten mit den theoretischen Hintergründen des Ganzen und den teilweise nicht einfachen Beweisen. Hier begegnet man dann auch den Burschen namens Euler, Pythagoras, Ceva usw., die sich mit den Rechenformeln und Beweisen für all das beschäftigt haben, was mit der Dynamischen Geometrie-Software heute relativ einfach zu bewerkstelligen ist.Doch bloß weil Dinge mit einer Software konstruierbar sind, ist das noch kein Beweis dafür, dass man richtig konstruiert hat. Darauf weist Walser auch hin – als kleine Mahnung für alle, die ihrem Rechner zu sehr vertrauen. Computerbeweise sind für einen Mathematiker wie Walser bestenfalls unterstützende Indizien – aber nicht wirklich tragfähige Beweise. Also beschäftigt er sich etwas eingehender auch mit der Natur von Beweisen.
Das Buch und sein Inhalt fordern also schon ein bisschen was von den Lesern und Mitkonstrukteuren. Aber es ist ein guter Helfer für jede und jeden, die ihre Logik und ihre konstruktive Phantasie wieder schulen wollen, leicht portionierbar. Vielleicht sogar ein gutes Mittel gegen die sonstigen medialen Angebote, die aus den Apparaten tickern – gedacht immer öfter für ein Publikum, das die Schule ohne Abgangszeugnis verlassen hat.
Vielleicht ist es sogar genau das, was einen an diesen nicht immer ganz einfachen Büchern aus der Edition am Gutenbergplatz beeindruckt: dass sie wie selbstverständlich das strengere und logische Denken ansprechen und den Nutzer nicht behandeln, als wär’s ein radebrechendes Gör aus der Kicherabteilung des Privatfernsehens.
99 Schnittpunkte
Hans Walser, Edition am Gutenbergplatz Leipzig 2012, 18,50 Euro
Wer sein Kind liebt, hält es zum Denken an. Und wer sich selber liebt, tut’s wohl auch. Und wer Herausforderungen liebt, braucht keineswegs auf den Mount Everest zu klettern. Der kann sich auch eine ordentliche Geometrie-Software zulegen und so ein Buch. Da hat man jeden Tag auch eine kleine Gipfelbesteigung – und wenn man es ernsthaft angeht, auch lauter kleine Erfolgserlebnisse. Jederzeit wiederholbar und steigerbar.
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